75 Jahre Grundgesetz So erkennt und kontert man Stammtischparolen

| | 08.05.2024 09:02 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Auch im Beruf kommt es zu Situationen, in denen Stammtischparolen fallen. Foto: Popov/stock.adobe.com
Auch im Beruf kommt es zu Situationen, in denen Stammtischparolen fallen. Foto: Popov/stock.adobe.com
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Stammtischparolen hört man nicht nur an Stammtischen. Sie geben Vorurteile wieder und grenzen Gruppen aus. Ein Argumentationstrainer gibt Tipps, wie man darauf am besten reagiert.

Leer - Es ist auf den Tag genau 75 Jahre her, dass der Parlamentarische Rat das Grundgesetz beschlossen hat. Am 23. Mai trat es dann in Kraft. Nach dem Scheitern der Weimarer Republik und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs wollte man eine demokratische Verfassung schaffen, die sowohl die Menschenrechte betont und festschreibt als auch eine wehrhafte Demokratie schafft. Auch die Landeszentrale für politische Bildung und die Volkshochschulen der Region leisten ihren Beitrag. So werden regelmäßig Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen angeboten – auch in Leer. Wir haben uns von dem Dozenten Tim Tjettmers von der Volkshochschule Friesland-Wittmund erklären lassen, was man eigentlich unter Stammtischparolen versteht und welche Tipps es beim Umgang mit ihnen gibt.

Tim Tjettmers bietet Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen an. Foto: privat
Tim Tjettmers bietet Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen an. Foto: privat

Was sind Stammtischparolen?

„Es ist kein ganz klar definierter Begriff“, sagt Tjettmers und verweist dabei auf die Forschung von Prof. Dr. Klaus-Peter Hufer, der auch das Argumentationstraining konzipiert hat. Bei „Stammtischparolen“ wisse aber jeder, was gemeint ist. Der Pädagoge betont, dass es auch gute Stammtische mit guten Gesprächen gebe. „Wir wollen Stammtische dadurch nicht schlechtreden.“

Grundsätzlich sei es eine Parole, die Vorurteile mit sich bringe, sagt der Argumentationstrainer aus Wilhelmshaven. Diese Vorurteile seien in der Gesellschaft vorhanden und könnten von jedem schnell abgerufen werden. „Dadurch stößt man schnell auf Zustimmung“, sagt Tjettmers. „Das ist von vielen, die Stammtischparolen sagen, auch gewünscht.“ Bei Stammtischparolen ist es laut Tjettmers so, dass eine sehr komplexe Angelegenheit sehr einfach erklärt wird. „Man muss nur das eine machen und dann geht es uns besser“, nennt er ein Beispiel.

Außerdem gebe es ein sogenanntes Othering – „die da oben und wir“. Beispiele seien: „Die Ausländer sind schuld, dass wir keine Jobs mehr haben. Wegen der Flüchtlinge können wir unsere Frauen nicht mehr auf die Straße bringen. Wegen der Boomer haben wir jetzt so große Umweltschäden.“ Das lasse sich auf beliebig viele Gruppen übersetzen.

Wann treten diese Situationen auf?

Das kann laut Tjettmers ganz unterschiedlich sein. Stammtischparolen können im Familienkreis am Kaffeetisch zu hören sein, aber auch in der Öffentlichkeit wie in der Bahn oder im Bus. Auch im Beruf sei es möglich. Der Unterschied sei allerdings, dass man in der Öffentlichkeit häufig viel weniger Zeit habe, darauf zu reagieren, so der Argumentationstrainer. Im Beruf – oder in der Schule – seien hingegen Lehrer und Vorgesetzte dazu verpflichtet zu reagieren und einzuschreiten.

Wie reagiert man darauf?

„Das hängt von der Situation ab, aber auch von einem selbst“, erläutert der 39-Jährige. So gebe es beispielsweise introvertierte und extrovertierte Personen. „Es gibt nicht die eine Maßnahme, die man mitgeben kann, wodurch man dann gewappnet ist“, so Tjettmers. Jeder müsse sich seinen eigenen Weg suchen.

Gibt es bestimmte Strategien?

„Das Allerwichtigste ist: Schweigen ist Zustimmung“, betont der Argumentationstrainer. „Es reicht ein einziges ,Nein, ich bin nicht deiner Meinung‘, damit diese Parole nicht unwidersprochen im Raum stehenbleibt.“ Damit zeige man zudem Betroffenen, dass sie nicht alleine sind. Außerdem motiviere man eventuell auch andere Leute, etwas zu sagen. „Und selbst wenn das nicht der Fall ist, bekommen es andere mit und sie können sich im Nachgang darüber Gedanken machen.“

Außerdem könne man dem anderen durch klare Nachfragen Logikfehler in seiner Argumentation aufzeigen. „Man ist dann nicht mehr derjenige, der reagiert, sondern bringt den anderen dazu, zu reagieren“, betont der Argumentationstrainer. Wichtig sei dabei, dass man keine Belehrung von sich gibt.

Es sei ein hehres Ziel, das Gegenüber davon zu überzeugen, dass seine Aussage falsch ist. „Das wäre das Optimum“, so Tjettmers. „Dann sind wir aber nicht mehr bei einer Stammtischparole, sondern bei einer normalen Diskussion.“

Manchmal heize sich auch die Stimmung auf. „Dann hilft es, leiser zu reden“, erläutert Tjettmers. Auch die Körpersprache sei sehr wichtig. „Wenn man die Schultern hängenlässt und sich nach vorne beugt, ist man untertänig“, sagt der 39-jährige Wilhelmshavener. „Es hilft dann, sich groß zu machen, sich räumlich Platz zu verschaffen.“

„Eine weitere Strategie ist: Ich spreche mit der Person, aber eigentlich spreche ich mit dem Umfeld“, sagt Tjettmers. „Ich weiß, dass ich die Person nicht erreichen kann, aber ich weiß, dass ich das Umfeld erreichen kann.“ Im Zweifel könne man auch diejenigen direkt ansprechen, die gerade nichts sagen und fragen: „Was sagst du eigentlich dazu?“ Auch einfach zu gehen, sei schonmal als Strategie genannt worden. „Grenzen zu setzen, Gesprächsregeln einzufordern.“ Das könne gegenseitiges Zuhören sein, aber auch, dass Menschenrechte oder das Grundgesetz nicht diskutiert werden.

Was muss man noch beachten?

In der Situation sei es auch wichtig zu wissen, dass man in der Defensive ist, so Tjettmers. „Man fühlt sich in einer Drucksituation.“ Die Amygdala im Gehirn löst eine Kampf- oder Fluchtreaktion aus. Entweder man greife an und poltere drauflos oder man sage nichts. „Wenn man das weiß, kann man Strategien entwickeln, was man tun kann“, sagt der Pädagoge. In den Trainings gehe es auch darum, dass man ein paar Ideen habe, wie man in dieser Situation aus der Defensive herauskomme und sich nicht ohnmächtig fühle.

Kann man die Tipps irgendwo nachlesen?

Die Landeszentrale für politische Bildung hat die App Konterbunt herausgegeben. Sie kann im Apple App-Store und bei Google Play heruntergeladen oder im Browser ausprobiert werden. Dort kann man spielerisch testen, wie man auf Stammtischparolen reagiert. Außerdem gibt es ein Parolenverzeichnis zu Themen wie Sexismus, Antiziganismus und Antisemitismus. Außerdem gibt es dort einen Strategieguide mit Hinweisen, wie man auf Stammtischparolen reagieren könnte.

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