Berlin/Straßburg (dpa)

Familien auf engem Raum: Sorge vor häuslicher Gewalt wächst

| 28.03.2020 08:16 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Um die Coronavirus-Pandemie einzudämmen, sollen die Menschen zu Hause bleiben. Für die einen ist das nur nervig, für viele andere eine Gefahr: Opfer von Gewalt in den eigenen vier Wänden sind mit ihren Peinigern quasi eingesperrt. Experten schlagen Alarm.

Kitas und Schulen zu, Eltern und Kinder den ganzen Tag zu Hause, Nerven blank - die Ausgangs-Beschränkungen in der Corona-Krise lassen die Sorge vor häuslicher Gewalt wachsen.

Berichte aus verschiedenen Staaten zeigten bereits, dass Kinder und Frauen derzeit in den eigenen vier Wänden einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt seien, sagte die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejčinović Burić, der Deutschen Presse-Agentur. Neben dem Gewaltrisiko könne die Krise Frauen auch wirtschaftlich treffen und ihre finanzielle Unabhängigkeit bedrohen. Auch deutsche Experten sind alarmiert, Bund und Länder wollen gegensteuern.

Berichte aus Frankreich zeigten etwa, dass viele Frauen wegen der Beschränkungen keine Notrufstellen anrufen könnten, sagte Pejčinović Burić. Bei den Hilfe-Telefonnummern gingen gut viermal weniger Anrufe ein als normalerweise. Dafür hätten Sofortnachrichten im Internet an Hilfsorganisationen in ganz Europa zugenommen. Das könne bedeuten, dass Täter ihre Opfer davon abhalten, telefonisch Hilfe zu suchen. In Dänemark habe man beobachtet, dass die Zahl der Frauen gestiegen sei, die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten. Der Europarat wacht über die Menschenrechte in 47 Mitgliedstaaten - neben den EU-Ländern etwa auch die Schweiz, Russland, Türkei, Ukraine oder Aserbaidschan.

Auch in Deutschland sind Experten alarmiert. „Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen“, sagte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring. „Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit.“ Die Opferhelfer würden das Problem von Festtagen wie Weihnachten kennen, so Ziercke. „Wenn die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer.“

Die Politik in Bund und Ländern hat das Problem auf dem Schirm. Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD) hat mit den Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -ministern der Länder Maßnahmen vereinbart - etwa, das Hilfetelefone gegen Gewalt an Frauen (08000 116 016) und für Schwangere in Not (0800 40 40 020) am Laufen zu halten. Beratung für Schwangere, die über eine Abtreibung nachdenken, soll es auch online oder am Telefon geben. Falls Frauenhäuser überfüllt sind, sollen die Behörden vor Ort prüfen, ob etwa leerstehende Hotels und Ferienwohnungen angemietet werden können.

Experten warnen, dass die Ausgangsbeschränkungen gerade auch für Kinder gefährlich werden können. Denn dort, wo es schon Gewalt gebe, werde sie noch einmal schlimmer, erklärte die Leiterin des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, Tanja Michael. Nach der Schließung von Kitas und Schulen sowie weitgehenden Kontakt-Verboten wegen der Corona-Pandemie seien Familien unter sich.

„Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder und die Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt“, sagte die Professorin. Hinzu komme, dass die Täter in der derzeitigen Situation vermutlich „noch schlechter gelaunt sind als normalerweise“. Aus Wuhan in China, wo das Coronavirus zuerst grassierte, gebe es Untersuchungen dazu: Dortige Frauenorganisationen hätten in der Quarantäne-Zeit dreimal so viele Opfer von häuslicher Gewalt registriert. Zudem habe die Polizei doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sagte dem RBB-Inforadio: „Jeder, der sich im Kinderschutz engagiert und für das Kindeswohl kämpft, der ist im Moment in größter Sorge.“ Die Lage von Kindern, die sexueller Gewalt durch Väter, Brüder oder Mütter ausgesetzt seien, verschärfe sich „enorm“.

Auch die Berliner Gewaltschutzambulanz befürchtet einen Anstieg von Kindesmisshandlungen. „Die soziale Kontrolle ist derzeit nicht da - der Bereich, in dem sonst häusliche Gewalt gegen Kinder auffällt, also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja gerade weggefallen“, sagte die Vizechefin der Ambulanz, Saskia Etzold. Verletzungen würden weniger bemerkt. „Wir müssen wohl davon ausgehen, dass innerfamiliäre Gewalt in den nächsten Wochen deutlich ansteigt.“ Die Ambulanz gehört zur Berliner Charité. Opfer können dort ihre Verletzungen vertraulich und kostenlos dokumentieren lassen.

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