Berlin (dpa)

Mordfall Weizsäcker: Mit zerschnittener Hand Notruf gewählt

Jutta Schütz und Anne Baum, dpa
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Von Jutta Schütz und Anne Baum, dpa
| 04.06.2020 07:43 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Der Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker hielt einen Vortrag, als er unvermittelt erstochen wurde. Ein Polizist schildert nun im Prozess, wie er Fritz von Weizsäcker helfen wollte. Der mutmaßliche Mörder schreit dazwischen.

Mit der bloßen, linken Hand greift der Polizist in die Messerklinge des Angreifers. Er will den 57-Jährigen stoppen. Ansonsten hätte dieser unzählige Male weiter auf den Arzt Fritz von Weizsäcker eingestochen, sagt der 34-Jährige als Zeuge vor dem Landgericht Berlin.

„Es ging mir nur darum, den Täter aufzuhalten.“ Er überwältigt den „ungebremst aggressiven“ Mann, als sie im Kampf am Boden liegen und der Polizist die Klinge des Klappmessers nicht mehr loslässt. „Ich hab' es ihm abgenommen.“ Doch zuvor wird der Kriminalbeamte selbst an den Händen, am Oberkörper und Hals von dem Messer getroffen. Seine einst zerschnittenen Hände liegen im Zeugenstand ruhig auf dem Tisch.

Es ist der dritte Verhandlungstag im Prozess gegen den Angeklagten aus Andernach in Rheinland-Pfalz, dem Mord an dem jüngsten Sohn von Richard von Weizsäcker sowie versuchter Mord an dem Polizisten zur Last gelegt werden. Die Tat hatte bundesweit Entsetzen hervorgerufen.

Sieben Zeugen werden gehört. Ein Polizist, der zum Tatort eilte, sagt, der Angeklagte habe seelenruhig zugesehen, wie Helfer versuchten, von Weizsäcker zu reanimieren. Bei einem anderen Beamten hat sich diese Äußerung des Angeklagten vor dem Abführen eingebrannt: „Schaffe ich es oder bin ich ein Versager?“

Fritz von Weizsäcker (59) starb am 19. November 2019 durch einen Stich in den Hals gegen Ende eines Vortrages in der Schlossparkklinik Berlin noch am Tatort. Der heute 34-jährige Polizist war privat zu dem Vortrag gekommen. „Polizei - Messer weg“ habe er noch gerufen, als der Angreifer zum Podium stürmte und den Chefarzt gestochen habe. Doch er habe keine Waffe gehabt und sei direkt dazwischen gegangen, so der Polizist.

Als Mordmotiv nimmt die Staatsanwaltschaft Hass auf die Familie des Getöteten an, insbesondere auf den früheren Bundespräsidenten. Im Prozess wird auch die Schuldfähigkeit des Angeklagten geprüft.

Der mutmaßliche Mörder hat die Attacke gestanden, aber keine Reue gezeigt. „Ich bin froh, dass er tot ist. Für mich war es notwendig“, hatte der 57-Jährige sein Geständnis vorgelesen. Er bezeichnete sich als Zwangsneurotiker, Ex-Nazi und verkrachte Existenz. Am Donnerstag unterbricht er mehrmals aus seiner Panzerglasbox aufgebracht die Aussage des Polizisten. „So viel Lügen“, schreit der schmächtige Mann.

Beatrice von Weizsäcker, die Schwester des Getöteten, die wie der Polizist zu vier Nebenklägern gehört, sitzt ihm gegenüber. Mehrmals hält sie kurz die Hände vors Gesicht, als damalige Zuhörer des Weizsäcker-Vortrags Details des blutigen Abends nennen. Eine 59-Jährige berichtet, wie der Professor zusammenbrach, der „Retter“ den Angreifer packte, dieser weiter zustach und Blut strömte. „Es ging alles ganz, ganz schnell.“

Er habe Todesangst gehabt, bekennt der Polizist. „Ich dachte wirklich, dass ich sterbe.“ Nachdem er den Täter überwältigt hatte, habe dieser ihn mit emotionslosem Blick immer wieder gefragt, ob er sauer auf ihn sei. Mit der verletzten Hand sei es ihm noch gelungen, das Handy herauszuziehen und den Notruf zu wählen.

Der Beamte wurde von Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) für sein Eingreifen mit einem Ehrenzeichen gewürdigt. In einem Ende Dezember veröffentlichten Brief schrieb der verletzte Polizist, es sei Aufgabe der Polizei, das Leben mit allen Mitteln zu schützen. Über den Tod von Weizsäckers empfinde er „tiefen seelischen Schmerz“.

Fritz von Weizsäcker hat seine letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof im Ortsteil Dahlem neben seinem Vater gefunden, der 2015 im Alter von 94 Jahren starb.

Offen und gefasst sagt der „Retter“-Polizist im schwarzen Hemd im Prozess: „Seit dem Geschehen bin ich im Angstmodus.“ Die letzten Monate seien schwierig gewesen, psychologische Hilfe wegen Corona schwer zugänglich. Er fühle sich wie auf einer Achterbahn. „Ich habe Angst, herauszufallen.“ Er könne nachts nicht schlafen. Erst seit dieser Woche sei er wieder im Dienst. Doch wie es da für ihn weitergeht, sei noch nicht entschieden. „Es muss, es muss einfach“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

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