Ausbeutung bei VW-Dienstleister Ein Luxusleben auf Kosten der Emder Leiharbeiter

| | 15.02.2023 20:27 Uhr | 2 Kommentare | Lesedauer: ca. 9 Minuten
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Der Chef fährt teure Autos, während die Angestellten hoffen, ihren Lohn zu bekommen. Grafik: Fischer
Der Chef fährt teure Autos, während die Angestellten hoffen, ihren Lohn zu bekommen. Grafik: Fischer
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Der Chef einer Kölner Leiharbeitsfirma beutet im Umfeld des Emder VW-Werks seine Mitarbeiter aus und führt örtliche Unternehmen hinters Licht. Das Ergebnis einer wochenlangen Recherche.

Emden/Köln - Jonas P. (Name geändert) sitzt in Kitzbühel am Frühstückstisch, es gibt Kaffee, Brötchen und Schinken. Doch Kitz, wie der 29-Jährige den Tiroler Luxusort nennt, wäre wohl nicht Kitz, wenn es nicht auch ein besonderes Schmankerl gäbe: In der Mitte des Tisches reiht sich auf Eis Auster an Auster, garniert mit Zitronenspalten. P. lässt es sich gut gehen in Österreich – während seine Arbeitskräfte in Emden in heruntergekommenen Wohnungen leben und sich fragen, ob der Lohn in diesem Monat pünktlich oder wenigstens in voller Höhe kommt. P. ist der Chef einer nach ihm benannten Firmengruppe mit Sitz in Köln und will mit Leiharbeit das große Geld machen. Das Unternehmen wirbt mit einem „wertschätzenden und vertrauensvollen Miteinander“, und für P.s engsten Kreis, bestehend aus jungen (Ex-)Wirtschaftsstudenten, mag das sogar stimmen. Für die überwiegend polnischen Leiharbeiter in Ostfriesland aber nicht.

Die Szene aus Kitzbühel, von der die Redaktion ein Foto hat, ist gut zehn Wochen alt, doch wir müssen noch etwas weiter in die Vergangenheit blicken: Anfang 2020 gründet sich die erste GmbH der Gruppe, Ende 2021 kommen zwei weitere Gesellschaften dazu. Einer gut informierten Quelle zufolge ist der ursprüngliche Plan, Arbeitskräfte aus der Türkei nach Deutschland zu holen – doch die Corona-Pandemie zerschlägt dieses Unterfangen. Stattdessen sollen nun Osteuropäer an Unternehmen verliehen werden. „Mit dem Kölner Ford-Werk lief anfangs alles gut, aber dann haben wir expandiert, und alles ist aus dem Ruder gelaufen“, sagt ein Insider. Eines der Expansionsziele der Kölner: das Emder Volkswagen-Werk.

Feiner Zwirn, teure Autos – und ein Hausverbot

Im vergangenen Jahr beginnt dort die Akquise. Der Erfolg ist sofort da: Gleich drei Unternehmen aus der Automobilbranche gehen P. an den Haken. Im Laufe des Jahres schließt die Kölner Firma Verträge mit der Volkswagen Group Services GmbH, der Dirks-Group und der EVAG. Die Volkswagen Group Services GmbH ist eine 100-Prozent-Tochter von VW, die EVAG ist für große Teile des Autoumschlags im Emder Hafen verantwortlich – und gehört seit Ende des vergangenen Jahres auch dem Volkswagen-Konzern. Die Dirks-Group ist zwar ein eigenständiges Emder Unternehmen, ist aber ebenfalls für Volkswagen tätig.

Unseren Informanten zufolge ist am Auftreten der Kölner Jungunternehmer in Emden zunächst nichts verdächtig, ganz im Gegenteil: Der attraktive und charismatische P. und seine jungen Mitstreiter machen Eindruck – mit gut sitzenden Anzügen, Luxusautos, teuren Uhren am Handgelenk und Zimmern in einem repräsentativen Hotel. Mehrere Quellen sagen unabhängig voneinander, dass die Autos Leihwagen und die Uhren mindestens zum Teil Plagiate gewesen seien. Einer der Informanten sagt, P. habe ihm selbst eine gefälschte Uhr angeboten – doch er habe abgelehnt. Was das Hotel betrifft, haben P. und seine Kollegen dort gesicherten Informationen zufolge inzwischen Hausverbot. Der Hotelier will sich auf Nachfrage der Redaktion dazu nicht äußern – Datenschutz.

Unstimmigkeiten bei der Krankenkasse

Wie viele Leiharbeiter die P.-Gruppe in Emden genau beschäftigt hat, wissen wir nicht. Unseren Informanten zufolge dürften es allerdings um die 50 Personen gewesen sein. Das Problem der Unterbringung lösten die Kölner über einen Emder Makler, der auch Wohnungen im Auftrag verwaltet. Gab es irgendwelche Auffälligkeiten? Ist er skeptisch geworden? „Es wurde keine Kaution gezahlt, stattdessen wurden Bankbürgschaften angekündigt“, sagt der Mann am Telefon. Das sei aber bei Unternehmen nicht so ungewöhnlich, wie es zunächst vielleicht klinge. Ungewöhnlich sei es dann aber später geworden, denn: P.s Firmen hätten die Mieten nicht bezahlt. Dokumente, die das belegen, liegen der Redaktion vor. „Irgendwann blieb uns nicht anderes übrig, als die Mietverhältnisse zu kündigen“, sagt der Makler. Ausstehend seien mehr als 10.000 Euro.

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Wieso offenbar kein Geld vorhanden war, um die Mietkosten zu decken, ist unklar, denn: Den Leiharbeitern zogen die Kölner fixe Beträge für die Mietkosten ab. Ohnehin habe es in Sachen Lohn unseren Quellen zufolge stetig Probleme gegeben: Das Geld sei so gut wie nie pünktlich und/oder vollständig gezahlt worden – und wenn, dann in vielen Fällen aus Geldbündeln aus der Hosentasche von anderen P.-Mitarbeitern. Unsere Recherche ergab, dass es zudem Schwierigkeiten mit der Sozialversicherung der Arbeitskräfte gegeben hat. Betroffen war demnach unter anderem die Krankenkasse Barmer. Deren Pressesprecher schreibt auf Nachfrage: „Ich muss Ihnen (…) leider mitteilen, dass ich zu dem von Ihnen angefragten Sachverhalt aus Gründen des Datenschutzes keine Angaben machen kann.“ Unseren Erkenntnissen zufolge kam es etwa zu Unstimmigkeiten bei der Anmeldung von Arbeitnehmern und bei der Beitragszahlung.

Wasserschäden und schäbige Hinterhöfe

Unstimmigkeiten gab es nach dem Mietrückstands-Rausschmiss aus den Wohnungen auch in Sachen Unterbringung der Leiharbeiter. Der Redaktion liegen aus den neuen Räumlichkeiten unter anderem Fotos von Wasserschäden, herausgerissenen Waschbecken, schmuddeligen Fluren und fleckigen Teppichen vor. Schaut man sich die Gebäude von außen an, sind etwa Risse im Mauerwerk, zugewucherte Grundstücke und schäbige Hinterhöfe zu sehen. In Facebook-Gruppen polnischer Menschen wird inzwischen vor einer Anstellung bei den P.-Unternehmen gewarnt – allerdings werden die Firmennamen nie genannt, oft wird mit Abkürzungen gearbeitet. Zu groß ist die Angst bei den Arbeitern vor rechtlichen Konsequenzen. Tatsächlich schrecken P. und seine Kollegen vor Strafanzeigen nicht zurück – so hatten sie unter anderem den Emder Makler wegen einer vermeintlichen Beleidigung angezeigt. Das Verfahren wurde eingestellt.

Die nicht erfolgten Mietzahlungen sind nicht die einzigen Außenstände von P.s Unternehmen. 2021 stieg er mit einer seiner Gesellschaften als Sponsor bei Fortuna Köln ein. Das Problem: P. zahlte nicht die komplette vereinbarte Summe, sondern nur einen Teil. Ausstehend sind noch rund 57.000 Euro. Eine Mitarbeiterin des Vereins will nicht viel zu den Interna sagen, teilt aber mit, dass sich das Verhältnis zwischen dem Viertligisten und P. innerhalb weniger Wochen von „Freund zu etwas ganz anderem“ entwickelt habe. Aktuell läuft am Landgericht Köln ein Zivilverfahren über die ausstehenden Sponsorengelder. Einer Gerichtssprecherin zufolge ist es aber „derzeit aus prozessualen Gründen unterbrochen“. Was genau das bedeutet, schreibt sie auf Nachfrage nicht.

Gab es gefälschte Arzt-Unterlagen?

Eine andere von P.s Gesellschaften sei derweil seinen „vertraglichen Verpflichtungen“ gegenüber dem in Nordrhein-Westfalen ansässigen Werksarztzentrum Deutschland nicht nachgekommen, schreibt eine Unternehmenssprecherin als Antwort auf eine Anfrage der Redaktion. Das Zentrum sollte verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen für die Leiharbeitnehmer vornehmen. Dazu ist es aber nicht gekommen: „Eine Dienstleistung unsererseits wurde nicht erbracht.“ Unseren Informationen zufolge wurden bei der P.-Gruppe allerdings intern Vorsorgebescheinigungen mit Stempel des Werksarztzentrums verschickt – mutmaßlich also Fälschungen. Ob solche Dokumente nach außen gelangt oder gar als Bescheinigung bei Unternehmen vorgelegt worden sind, wissen wir nicht. Quellen unter den Leiharbeitern haben uns allerdings gesagt, nicht von Ärzten untersucht worden zu sein.

Und was sagen EVAG, Dirks-Group und Volkswagen Group Services zur Zusammenarbeit mit einem Mann, dem die Ausbeutung seiner Arbeitskräfte vorgeworfen wird? EVAG-Geschäftsführer Harald Aden sagt am Telefon, dass man sich „schnell“ wieder von der P.-Gruppe getrennt habe, weil die erbrachten Leistungen nicht den vertraglich vereinbarten entsprochen hätten. Wie lange man mit P. zusammengearbeitet habe, vermöge er nicht zu sagen. Ein Dirks-Sprecher schreibt: „Die Dirks-Group hatte zeitweilig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma P. im Einsatz.“ Nachdem aber festgestellt worden sei, dass das Unternehmen „weder den Qualitätsstandards noch den Compliance-Regeln“ entsprochen habe, habe man sich getrennt. Zahlreiche Mängel seien „im Prozedere der Firma zum Beispiel hinsichtlich der Lohnauszahlung und Unterkunftssituation“ aufgetaucht.

P. droht mit Vertragsstrafen

Was die Volkswagen Group Services GmbH (VWGS) angeht, hatte unsere Recherche ergeben, dass die Emder IG Metall sich bereits mit dem Fall beschäftigt. Nach einem kurzen Telefonat haben wir einen Gesprächstermin vereinbart, und dann war eine Woche Funkstille. Gewerkschaftssekretär Henrik Köller bittet um Verständnis: „Wir wollten erst einmal alle Schäfchen ins Trockene bringen.“ Mit den Schäfchen meint er die bei der VWGS verbliebenen P.-Mitarbeiter. Einige von ihnen hatten sich mit einem Hilferuf an die Gewerkschaft gewandt und die sich wiederum an Volkswagen. Gemeinsam wurde ein Plan ausgearbeitet – mit Erfolg: Die Mitarbeiter wurden in die VW-Tochter Autovision übernommen, die Verbindung zu den P.-Unternehmen wurde damit gekappt. Nach der Konfrontation reagierten P. und seine Kollegen sofort, und zwar mit einem Schreiben, das der Redaktion vorliegt.

„Nach der Kontrolle der Unterkünfte des Geschäftsführers Herrn P. wurde festgestellt, dass die Unterkünfte nicht den Standards unseres Unternehmens entsprechen“, heißt es dort unter anderem. Es werden neue Unterkünfte und bis auf Widerruf bezahlter Urlaub versprochen – und „die Mietpauschale in Höhe von 200 Euro“ bleibe bestehen. Es werde erwartet, dass alle Mitarbeiter „auf Abruf wieder einsatzbereit“ seien – sonst werde man sich auf Paragraf 6 des Arbeitsvertrags berufen, eine Vertragsstrafe, die dem jeweiligen Leiharbeiter wieder Teile des Gehalts kosten würde. Verbunden war das vom 25. Januar datierte Schreiben mit dem Aufruf zum Umzug nach Köln, dem unseren Recherchen zufolge die allermeisten Emder P.-Arbeitnehmer nicht gefolgt sind. Mit der Unterstützung der Gewerkschaft und von Dolmetschern haben sie sich zur Wehr gesetzt.

Wie geht es weiter mit der P.-Gruppe?

Eine VWGS-Sprecherin schreibt der Redaktion auf Nachfrage, dass der Vertrag mit P. von November 2022 bis Januar 2023 gelaufen sei. Und: „Die Volkswagen Group Services GmbH hat die Zeitarbeitsfirma P. (…) umgehend von ihrem Auftrag entbunden, nachdem bei einer Begehung der Emder Unterkünfte von Zeitarbeitnehmern festgestellt wurde, dass die Unterbringung nicht angemessen ist. (…) Wir nehmen den Vorfall sehr ernst und tun alles in unserer Macht stehende, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“ Der Compliance-Verstoß sei der zuständigen Beschaffungsabteilung gemeldet, weitere Untersuchungen seien veranlasst und P. sei von der Lieferantenliste gelöscht worden.

Eines der drei P.-Unternehmen ist inzwischen insolvent. Das hat uns ein Sprecher des zuständigen Amtsgerichts Köln auf Nachfrage bestätigt. Der Arbeitsagentur Düsseldorf zufolge darf eine weitere Gesellschaft seit Juli 2022 keine Arbeitnehmer mehr verleihen, und die Genehmigung für die letzte Firma sei am 8. Februar 2023 ausgelaufen. Auf der Webseite und bei Instagram werden allerdings weiterhin Mitarbeiter in Köln gesucht. Stellenanzeigen für Ostfriesland hatte die P.-Gruppe während unserer Recherche wieder aus dem Netz genommen. Kurz vor Erscheinen dieses Textes hat P. die Geschäftsführung an einen seiner Vertrauten abgegeben – an den Mann, der die mutmaßlich gefälschten Vorsorgebescheinigungen herumgeschickt haben soll.

Wie also geht es weiter? Diese und weitere Fragen haben wir nach Köln geschickt. Die Antwort: „Wie Sie sich sicher vorstellen können, werden wir uns zu Unternehmensinterna nicht äußern“, schreibt eine Mitarbeiterin. Und eine Drohung schickt sie auch mit: „Rein vorsorglich möchten wir Sie insbesondere im Hinblick auf die von Ihnen aufgeworfenen Fragestellungen mit strafrechtlicher Bezugnahme darauf aufmerksam machen, dass eine unzulässige Verdachtsberichterstattung ihrerseits entsprechende Rechtsfolgen für den Verlag zur Folge haben wird.“

Der Chef fährt teure Autos, während die Angestellten hoffen, ihren Lohn zu bekommen. Grafik: Fischer
Der Chef fährt teure Autos, während die Angestellten hoffen, ihren Lohn zu bekommen. Grafik: Fischer