Ostfriesland hilft

Wo die Flut eine Schneise der Verwüstung zog

Ines Kubat, Kian Tabatabaei und Björn Hellmich
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Von Ines Kubat, Kian Tabatabaei und Björn Hellmich
| 27.07.2021 19:01 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
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Eine Schneise der Verwüstung durch Zweifall – doch die Menschen helfen sich. Foto: Kubat
Eine Schneise der Verwüstung durch Zweifall – doch die Menschen helfen sich. Foto: Kubat
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Kirche, Kita, Sägewerk: Im Stolberger Stadtteil Zweifall ist zu sehen, mit welcher Wucht das Hochwasser wütete. Der große Zusammenhalt untereinander hilft den Menschen. Auch OZ-Leser können helfen.

Gemeinsam mit der Aachener Zeitung (AZ) sammelt diese Zeitung Spenden für die Betroffenen der Hochwasserkatastrophe in der Region Stolberg/Eschweiler. Dieser Text ist in der AZ erschienen und schildert die Lage vor Ort.

Stolberg - Die Gesichter sind braun gebrannt, die Augen müde. Den Menschen in Zweifall ist anzusehen, dass sie seit Tagen quasi pausenlos im Einsatz sind. Das Hochwasser hat den Stolberger Stadtteil Zweifall hart getroffen. Vicht- und Hasselbach fließen hier sonst beschaulich nebeneinander durch den Ort. Als das Wasser über die Ufer trat, war das Schicksal der nahegelegenen Gebäude besiegelt. Mehr als 100 Haushalte sind betroffen, einige Häuser sind einsturzgefährdet.

Die Flut hat vielen Menschen jeden Besitz geraubt, im Schlamm findet man neben Stühlen, Schuhen und Vorratsdosen auch Dinge, die aus dem Privatesten herausgespült wurden: Familienfotos, Feldpost aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Verlust, der sich nicht mit den großzügigsten materiellen Spenden aufrechnen lässt. Und dennoch machen die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils einen gefassten Eindruck. Kraft gibt ihnen, wie sie beschreiben, der große Zusammenhalt im Dorf und die Solidarität, die sie erfahren.

Die Feuerwehr befreite die Straßen vom Dreck

„Die Hilfsbereitschaft ist der Wahnsinn“, sagt etwa Tina Bungenberg. Bei ihr laufen viele Fäden zusammen. Sie arbeitet im Veranstaltungsmanagement der Stadt Stolberg, organisiert jetzt aber die Aufräumarbeiten – ehrenamtlich. Sie weiß, wo angepackt werden muss und was noch fehlt. Etwa 200 Helferinnen und Helfer seien täglich vor Ort, erzählt sie. Landwirte und Firmen hätten Geräte und Personal zur Verfügung gestellt. Das Engagement aus dem privaten Bereich sei enorm. Neben Anwohnern gehören auch Menschen, die Hunderte Kilometer zurückgelegt haben, zum regen Treiben auf den Straßen, die mittlerweile größtenteils befahrbar und vom Schutt befreit sind. Anfang der Woche konnte die Feuerwehr sie mit Wasserkraft und knapp hundert Helfern vom Dreck befreien.

Mit dem Matsch, den man hinauskehrte, kehrte ein Gefühl von Normalität zurück. „Jetzt, wo wir nicht mehr nur funktionieren müssen, realisieren wir erst, was hier eigentlich passiert ist. Heute habe ich schon viele weinende Menschen gesehen“, sagt Bungenberg und blickt auf den munter plätschernden Bach, der längst wieder in sein Bett zurückgekehrt ist – ungeahnt der Zerstörung, die er angerichtet hat: „Die Vicht ist eigentlich sehr idyllisch, hat uns aber diesmal alles gekostet“, sagt Bungenberg, und ihre Stimme wird brüchig.

Die Kirche wird zum Gratis-Supermarkt

Für solche Situationen ist Pfarrer Ulrich Lühring aus dem benachbarten Breinig in den Ort gekommen. Er ist leicht zu erkennen, denn er trägt ein Collarhemd. Ein anderes Merkmal: Seine Klamotten sind nicht mit Schlamm bedeckt. Denn er ist nicht hier, um mit Schaufel und Besen anzupacken, sondern um den Menschen als Seelsorger zur Verfügung zu stehen. „Es ist unwirklich“, sagt er mit Blick auf das Bild, das Zweifall in diesen Tagen bietet. Unwirklich ist auch der Innenraum der katholischen Kirche mitten im Ort. An den weiß getünchten Wänden sieht man noch die Überreste des Wassers. Etwa 1,80 Meter hoch stand hier die braune Brühe. Den Altar haben die Helfer wieder ein wenig hergerichtet. Viele weiße Priesterroben hängen aber noch besudelt an einem Ständer.

In der katholischen Kirche stapeln sich Spenden - das Gotteshaus wurde in einen Gratis-Supermarkt umfunktioniert. Foto: Kubat
In der katholischen Kirche stapeln sich Spenden - das Gotteshaus wurde in einen Gratis-Supermarkt umfunktioniert. Foto: Kubat

In Eigenregie haben die Dorfbewohner die wertvollen Reliquien aus der Kirche gerettet, um sie nicht an das Wasser oder – schlimmer – Diebe zu verlieren. Auf den Kirchenbänken stapeln sich mittlerweile Spenden, darunter Hygieneprodukte, Wasserflaschen, Babynahrung, Brot und Nudeln. Hier können sich die Dorfbewohner abholen, was sie brauchen. Ein improvisierter Gratis-Supermarkt in der Kirche.

Das Hochwasser verwüstete Betriebe

Was so ein Hochwasser anrichten kann, wird auch im Sägewerk am Rande des Ortes deutlich. Lager- und Produktionshallen auf dem rund 10.000 Quadratmeter großen Gelände, auf dem auch ein Dachdecker, eine Maschinenbaufirma und ein Unternehmen für Garten- und Landschaftsbau angesiedelt sind, sind als solche kaum mehr zu erkennen. Die Flut erreichte hier eine Höhe von rund 2,50 Metern, berichtet Logpack-Geschäftsführer Thomas Fischer.

Thomas Fischer, Logpack-Geschäftsführer, muss sein Sägewerk bereits zum zweiten Mal neu aufbauen. 1995 gab es einen Großbrand, nun zerstörte das Hochwasser seinen Betrieb. Foto: Tabatabaei
Thomas Fischer, Logpack-Geschäftsführer, muss sein Sägewerk bereits zum zweiten Mal neu aufbauen. 1995 gab es einen Großbrand, nun zerstörte das Hochwasser seinen Betrieb. Foto: Tabatabaei

3,5 bis 4 Millionen Euro koste ihn der Wiederaufbau. Versichert sei seine Firma seit einem Großbrand 1995 nicht mehr, „so geht es mir, so geht es aber auch anderen Betrieben“. Es ist bemerkenswert: Der 50-Jährige steht inmitten der Trümmer, der Betrieb, den er als 21-Jähriger gekauft hat, ist vollständig zerstört, doch was ihn zu Tränen rührt, ist die Hilfsbereitschaft, die er erfährt und die er nicht müde wird zu betonen.

Die Kita war nur noch ein Trümmerfeld

Kerstin Beeck, Leiterin der Dorf-Kita, hängt gerade ein langes Danke-Plakat an die Tür des kleinen Bruchsteinhauses, dessen Garten direkt an der Vicht liegt. Gemeinsam mit Mitarbeitenden hatte sie noch versucht, letzte Gegenstände vor der Flut zu retten. Dabei wateten sie knietief durch das Wasser in Spielräumen und Büros. Doch ihre Mühe war vergebens: Als die Helfer ankamen, fanden sie ein Trümmerfeld vor. Der Fluss hatte meterhoch Schutt, Holz und Fahrzeuge auf das Gelände getrieben. Kaum ein Spielzeug konnte gerettet werden. Zumal man ja auch nicht wisse, ob das Wasser und der Schlamm verunreinigt seien, ob man diese Dinge jemals wieder Kindern zum Spielen geben könne, sagt Beeck.

Eine Woche nach der Flut erkennt man in den Räumen nicht mehr, dass hier einst 45 Kinder fröhlich spielten. Mit einer enormen Anstrengung haben Helfer das Gebäude ausgeräumt. „In den nächsten Tagen soll noch der Boden herausgerissen werden.“ Danach, hofft Beeck, könne man sehen, ob das Gebäude noch zu retten ist.

Thomas Fischer, Logpack-Geschäftsführer, muss sein Sägewerk bereits zum zweiten Mal neu aufbauen. 1995 gab es einen Großbrand, nun zerstörte das Hochwasser seinen Betrieb. Foto: Tabatabaei
Thomas Fischer, Logpack-Geschäftsführer, muss sein Sägewerk bereits zum zweiten Mal neu aufbauen. 1995 gab es einen Großbrand, nun zerstörte das Hochwasser seinen Betrieb. Foto: Tabatabaei

Doch es gibt noch eine Aufgabe an diesem Tag für sie und ihre Stellvertreterin Nicole Horst-Krott: Sie öffnen das kleine Holzhaus, das bislang nicht angerührt wurde. Innen finden sie Spielzeuge, Bierzeltgarnituren und vieles mehr in einem wilden Durcheinander. Überzogen von einer dicken Schlammschicht. „Es ist einfach schlimm“, sagt Beeck. Ihre Stellvertreterin knetet ihre Hände, sichtlich um Fassung bemüht. Sie selbst wohnt „oben in Dorff“. Von den Folgen des Hochwassers ist sie privat nicht betroffen, was ihr ein komisches Gefühl gebe. Natürlich ist auch sie jeden Tag „unten in Zweifall“, sie sieht das Leid der Menschen dort, packt mit an, hat Kontakt zu den teilweise traumatisierten Kindern, die nicht nur ihre Kita, sondern auch ihr Zuhause verloren haben – doch abends kann sie Zweifall verlassen und in ihrem Heim Kraft tanken. „Da fühlt man sich schon auch irgendwie schuldig“, sagt sie.

Einige Stunden später, wenn alle die Schaufeln niederlegen, kommen in Zweifall die Helferinnen und Helfer wie an den anderen Tagen vor der Kirche zusammen; sie essen gemeinsam und liegen sich manchmal auch tröstend in den Armen. Wenn es auch nur irgendetwas Positives gibt, das man aus dieser Situation ziehen kann, dann die Gewissheit, dass in Zweifall Verlass aufeinander ist.

So können die OZ-Leser helfen

Ostfriesen, die den von der Flut betroffenen Menschen in Stolberg und Eschweiler helfen wollen, können hier spenden: „Ein Herz für Ostfriesland gGmbH“, IBAN: DE 55 2859 0075 0011 1112 00 bei der Ostfriesischen Volksbank eG, Leer.

Bis zu einer Spende von 199 Euro erkennt das Finanzamt den Einzahlungsbeleg an. Bei höheren Beträgen können Spendenquittungen ausgestellt werden. Nähere Informationen gibt es per E-Mail an info@einherzfuerostfriesland.de

Spenden kann man auch direkt hier per Paypal.

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