70 Jahre OZ

In zehn Punkten: Eine Liebeserklärung an Ostfriesland

Sylvie Gühmann
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Von Sylvie Gühmann
| 09.10.2020 00:00 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Die Leeraner Autorin Sylvie Gühmann erklärt in zehn Punkten, was ihre Heimat Ostfriesland so besonders macht. Am Anfang steht das „Moin“ – und das „Endje van de Welt“ ist noch lange nicht das Ende.

Ostfriesland - Moin, liebstes Ostfriesland. In den folgenden Zeilen widme ich dir eine Liebeserklärung. Mit der Anrede habe ich schon den ersten Punkt auf meiner Liste von den zehn Dingen, die ich besonders an dir liebe, abgehakt: die Begrüßungsformel. Im deutschen Sprachraum hat kaum ein Wort eine aussagekräftigere Wirkung als dieses „Moin“. Denn dahinter verbirgt sich nicht nur eine Floskel; die Betonung und Art des „Moins“ sagen mehr als Tausend Worte. Ist das Gegenüber gesprächsbereit oder gar grimmig? Nun, anhand des Klangs lässt sich das in Sekundenschnelle herausfinden. Damit wäre auch schon (fast) alles gesagt.

2. Das unfassbar schlechte Internet:

Im Ostfriesen-Nerz mit Teetasse und Pappkuh an der Jümme: Sylvie Gühmann liebt ihre Heimat. Bild: Ortgies
Im Ostfriesen-Nerz mit Teetasse und Pappkuh an der Jümme: Sylvie Gühmann liebt ihre Heimat. Bild: Ortgies
Zugegeben, das erscheint zunächst nicht allzu attraktiv. Doch beginnen wir in meiner Jugend: In dieser Zeit hast du mir, liebes Ostfriesland, schlaflose Nächte beschert. Wollte ich doch bis spät in die Morgenstunden hinein via ICQ und Facebook meiner Jugendliebe schreiben. Auch, wenn das nur hieß, dass man sich Smileys schickte. Doch immerhin zeigten wir so einander, dass wir noch da sind, irgendwo mitten in der Nacht; da, am anderen Ende der Leitung.

Und was für einer Leitung: Denn selbst für die Smiley-Texterei saß ich nächtelang, das Klapphandy in der Hand, mit Ringen unter den Augen und meinem Vater schimpfend hinter verschlossener Tür, allein vor diesem Router, als wäre er eine Art Altar. Weiter weg durfte ich mich nicht bewegen.

Denn du, liebes Ostfriesland, bringst es fertig, dass jeder einzelne Internetanbieter vor dem Haus meiner Eltern in die Knie geht. Tatsächlich hatte ich in meinem Urlaub vor zwei Jahren in Bulgarien, wo faustgroße Löcher in der Straße klafften, besseres Internet als hier, bei dir.

Nur eine Sache, die hat sich mit der Zeit geändert: Was mich früher in den Wahnsinn trieb, lässt mich heute beim Eintreten in mein Elternhaus aufseufzen: Endlich einmal kein Internet. Endlich einmal nicht erreichbar sein. Endlich einmal da sein. Hier, bei dir.

3. Die Prise Heimat für den Alltag

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor Jahren herzhaft darüber lachte, als mir eine Bekannte erzählte, sie hätte ostfriesisches Leitungswasser mit in den Urlaub genommen. Das Wasser andernorts schmecke nicht, sagte sie. Damals wusste ich nicht, dass es ihr vermutlich gar nicht so sehr um das Wasser ging, sondern um den Tee.

Erst voriges Jahr ertappte ich mich selbst dabei, wie ich meine Teedose mit der Ostfriesen Mischung samt Filter in meinem Koffer verschwinden ließ, bevor ich nach Griechenland flog. Sicher ist sicher. Nachher gibt es da nur diesen wässrigen Darjeeling oder schlimmer noch: Earl Grey. Nein, bevor ich Spülmittel trinke, nehme ich lieber den Tee mit.

Dieses Jahr klagte ich während der Arbeit beim Aufkochen des Hamburger Leitungswassers über dessen hohen Kalkgehalt. Meine Kollegen und Kolleginnen betrachteten mich wie einen Vertreter einer seltenen Spezies. Zuvor hatte ich bereits den Kaffee aus der sündhaft teuren Barista-Kaffeemaschine verschmäht. Erst da fiel mir auf, dass es mir gar nicht so sehr um den Tee und das Wasser an sich ging. Zweifelsohne – das weiche Leitungswasser in Ostfriesland ist für den Teekonsum prädestiniert (das weiß jeder Ostfriese). Und auch der Tee selbst ist der Beste (das weiß auch jeder Ostfriese). Doch eigentlich ist der Ostfriesentee viel mehr – eine Prise Heimat im Alltag. Und wer weiß? Vielleicht fülle ich mir demnächst auch noch ostfriesisches Leitungswasser ab.

4. Die Sterne, die am Himmel blinken:

Etwa ein halbes Jahr nach meinem Umzug in die Großstadt fiel mir auf, dass mir etwas fehlt. Es war Herbst und Nacht und ich auf dem Nachhauseweg von einem Abend in der Bar mit Freunden. Und während ich so lief, tat ich etwas, dass ich seit meiner Jugend machte, wenn ich spät abends nach Hause lief: Ich schaute nach oben. Doch statt in die Sterne zu blicken, sah ich nur Eines: Nebel. Das Licht der Großstadt hatte die Sterne verschluckt. Auch deshalb liebe ich dich so sehr, liebes Ostfriesland. Ich meine, du holst mir die Sterne vom Himmel, was will ich mehr?

5. Dass man hier „auf Wolken schwebt“:

Jüngst zog eine Kommilitonin zurück in den Süden. Der Grund: Sie hält das Wetter im Norden nicht mehr aus. Das andauernde Grau am Himmel schlage ihr auf aufs Gemüt. Ich verstehe noch immer nicht ganz, was sie damit meint. Wo doch der Himmel erst dann schön ist, wenn ein paar Wolken aufziehen. Und hier, bei dir, liebes Ostfriesland, ganz besonders: Ein stetig wechselndes Potpourri aus weißen und grauen Klecksen, nie gleich. Also lass dir bloß nichts Falsches einreden. Blau kann jeder.

6. Die weißen Kronen der Nordesee:

Wellen werfen weiße Kronen ins Wasser. Kreischende Möwen hängen wie steigende Drachen am Herbsthimmel. Wind fegt feine Sandkörner über den Strand. Die Nordsee, die zu meinen Füßen liegt, wirkt wie eine Verlängerung des Himmels, die Grautöne gehen fließend in einander über. Und da soll noch einmal wer meinen, liebstes Ostfriesland, du seist nicht der Himmel auf Erden.

7. Das schönste Ende der Welt:

Ich stehe auf einer Betonplattform inmitten des Wattenmeers. Der Wind rauscht um mich herum, presst mir die Klamotten an den Leib und peitscht mir die Haare ums Gesicht. Graue Wellen strecken ihre Zungen nach den Steinen zu meinen Füßen aus. Bis auf die unzähligen Wildgänse, die über den Himmel ziehen und dann hier rasten, bin ich allein. Und wie ich mich setze, auf die Bank neben dem Münzfernrohr, dem Relikt aus anderen Zeiten, denke ich so bei mir, dass ich nirgendwo so schön allein bin wie hier bei dir, liebes Ostfriesland. Hier am „Endje van de Welt“ – auf der Bohrinsel in Dyksterhusen. Und dass, wenn das hier wirklich das Ende der Welt sein sollte, ich damit ganz einverstanden bin.

8. Die schwarzbunten Schönheiten:

Spätestens seitdem mit der Miss-Wahl keine adrette Brünette, sondern eine schwarzweiße Kuh (oder schwarzbunte Kuh, wie es hier richtig heißt) ausgelobt wird, ist klar: Die Kuh ist vom ostfriesischen Acker nicht wegzudenken. Im Winter sehen deine Felder, liebes Ostfriesland, darum auch schrecklich trist aus. Der ostfriesische Frühling beginnt für mich also nicht mit den ersten Knospen, sondern dann, wenn die Milchkühe wieder über die Weiden ziehen. Und sowieso: Was wäre ein Spaziergang durch den Hammrich ohne den Geruch von Gülle?

9. Die schier endlose Weite:

Nicht erst seit Corona-Zeiten weiß ich diesen Punkt besonders zu schätzen. Wenn mir die Häuserblöcke der Großstadt zu eng werden, die Luft zu stickig und der Blick in den Himmel versperrt ist, fahre ich zu dir, liebes Ostfriesland. Nirgendwo bekomme ich den Kopf so frei: Wenn sich die Wege endlos ziehen, die Halme sich am Straßenrand träge deinem Wind beugen und der einzige „Berg“ weit und breit der Deich ist – dann bin ich Zuhause.

10. Die wortkargen Bewohner:

In Zeiten, in denen ein jeder auf allen möglichen Kanälen mit Informationen bombardiert wird, sind Ostfrieslands wortkarge Bewohner Balsam für meine Seele. In diesem Sinne: Genug mit dem Gesabbel. Ik hebb jo leev.

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