70 Jahre OZ

Warum der Begriff „Lügenpresse“ falsch ist

Joachim Braun
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Von Joachim Braun
| 09.10.2020 00:01 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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OZ-Chefredakteur Joachim Braun analysiert, warum es für unabhängige Medien besonders schwer ist Gehör zu finden, je stärker die Gesellschaft polarisiert ist. Und er erklärt, warum der Begriff „Lügenpresse“ haltlos ist.

Leer - Wer bei der Sächsischen Zeitung in Dresden arbeitet, braucht starke Nerven. Seit bald sechs Jahren marschieren fast jeden Montagabend an dem Verlagshaus Hunderte, manchmal auch Tausende Pegida-Anhänger vorbei und brüllen ihre Wut gegen die angebliche „Lügenpresse“ heraus.

Der Begriff „Lügenpresse“, 2014 zum „Unwort des Jahres“ gewählt, ist schon viel älter. Vor 150 Jahren nutzten reaktionäre Kräfte ihn, um die liberale Presse zu schmähen, auch in den polarisierten Zeiten im Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus wurde er genutzt, um nicht systemkonforme Medien zu beschimpfen. Pegida befindet sich also in guter Tradition. Und es ist sicher kein Zufall, dass in einer Zeit, in der die (deutsche) Demokratie mal wieder in Gefahr ist, gegen Medien gehetzt wird. Auch bei den Demos gegen die Corona-Maßnahmen tauchen die „Lügenpresse“-Plakate wieder auf.

Eine der schwierigsten Fragen: Wie umgehen mit Corona-Leugnern?

Die meisten unabhängigen Medien in Deutschland – also Zeitungen ebenso wie private und öffentlich-rechtliche Sender – nehmen für sich in Anspruch, die Demokratie zu verteidigen. Dazu gehört auch, dass sie beispielsweise Bürger gegen willkürlich handelnde Behörden schützen. Gerade privatwirtschaftliche Medien, wie die Tageszeitungen, sind laut Grundgesetz staatsfern und unabhängig. Dass der ein oder andere Journalist mit den Mächtigen kungelt und seine Rolle verrät, ist sicher richtig. Aber wo gibt es keine schwarzen Schafe?

Wie umgehen mit „Corona-Leugnern“ ist eine der aktuell schwierigsten Fragen, gerade im Lokaljournalismus. Ihnen einfach so eine Bühne geben, ist ausgeschlossen. Bei allem Verständnis für die durch Lockdown und die folgenden Maßnahmen verursachten wirtschaftlichen Probleme, die sie antreiben mögen, sind deren Anschauungen in der Regel nicht durch Fakten gedeckt, auch nicht durch die wahrnehmbare Realität der Corona-Folgen in Ländern wie Italien, Spanien und den USA. Also versuchen wir die Thesen einzuordnen, was kompliziert ist und oft nicht gelingt. Denn Lokaljournalisten sind keine Virologen.

Corona-Leugner und Demokratiegegner wenden sich weitgehend von unabhängigen Medien ab

Was Corona-Leugner und radikale Demokratiegegner wie Reichsbürger, Neonazis und AfD-Aktivisten, aber natürlich auch Linksextremisten, gemein haben, ist, dass sie sich weitgehend von unabhängigen Medien, der von ihnen geschmähten „Lügenpresse“ abgewendet haben. Sie nutzen vorzugsweise soziale Netze wie Facebook, Youtube und Twitter und Messengerdienste wie Telegram und Whatsapp.

Dort finden sie, was sie suchen: Bestätigung für ihre Thesen und für ihre Sicht der Welt. Experten sprechen von „Filterblasen“. Alles, was der eigenen Weltsicht widerspricht, wird abgelehnt. Medien, die sich der Meinungsvielfalt verpflichtet haben, haben ausgedient. US-Präsident Donald Trump spielt diese Klaviatur nahezu perfekt: Kritische Berichterstattung über sich kontert er mit Lügen, Drohungen und Beleidigungen auf seiner Lieblings-Plattform Twitter.

Auch in Leserbreifen und E-Mails an die Redakteure hat der Hass zugenommen

Die OZ-Redaktion erlebt diese Spaltung ganz unmittelbar. Drei Themenbereiche spielen wir auf Facebook nur noch aus, wenn die Onlineredaktion Dienst hat: Flüchtlinge, Corona und – ja wirklich – auch Tierschutz- oder Jagd-Themen. Als ob sie darauf warteten, fluten bei diesen Themen Trolle mit ihren Kommentaren unsere Seite, beleidigen und pöbeln herum. Moderationsversuche scheitern oft, dann bleibt nur, Kommentare zu löschen und die Urheber zu sperren.

Aber auch in Leserbriefen und E-Mails an Redakteure hat der Hass massiv zugenommen. Was vor zehn Jahren nur anonym erfolgte, passiert inzwischen oft mit voller Namensnennung und reicht bis zu Gewaltandrohungen. Gut, mit Widerspruch müssen Journalisten leben, sie gehen ja auch oft nicht zimperlich mit anderen um, mit Drohungen sicherlich nicht. Und manche scheitern dran. Sie suchen sich einen Beruf, in dem sie nicht ständig Hass aushalten müssen. Schlimmer als das ist aber, was der Hass über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt. Streit ist die Grundlage der Demokratie, aber Streit, der getragen ist von Respekt vor dem anderen und dessen Meinung. Andererseits gilt aber auch, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen mit Hass nichts zu tun hat. Man hört sie nicht, aber sie sind da.

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