Hilfe für Flutopfer

Zwischen Erschöpfung und Zusammenhalt

Heike Eisenmenger
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Von Heike Eisenmenger
| 03.08.2021 15:54 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Die Anlaufstelle auf dem Mühlener Markt.
Die Anlaufstelle auf dem Mühlener Markt.
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Die Menschen in Stolberg helfen sich gegenseitig. Nach der Flutkatastrophe ist der Zusammenhalt dort enorm. Ein Bericht aus der Region, für die OZ-Leser spenden können.

Gemeinsam mit der Aachener Zeitung (AZ) sammelt diese Zeitung Spenden für die Flutopfer. Dieser Text ist in der AZ erschienen.

Stolberg - Der „Captain“ ist in der Menge leicht auszumachen: Zwei Meter groß, 150 Kilogrammschwer. Seinen Spitznamen hat Enrique Ulfig noch nicht lange – „Captain“ wird der Tätowierer genannt, seit er sich im Stadtteil Mühle als Krisenmanager während der Hochwasserkatastrophe entpuppte. Er ist einer, der weiß, wie man etwas schnell organisiert, sich vernetzt, mit anpackt und Kommandos gibt. Der 36-Jährige betont, dass die Anlaufstelle auf dem Mühlener Markt nicht allein sein Verdienst ist.

In die vorderste Reihe derjenigen, die den harten Kern des Organisationsteams der ersten Stunde bilden, gehören seine Frau Duygu, der Veranstaltungsmanager Jens Sonntag aus Herzogenrath und auch Volkan Berber, dessen Mobilfunkgeschäft in den Fluten unterging.

Hilfe zur Selbsthilfe nach der Katastrophe

Viele haben Anteil daran, dass sich im multikulturellen Stadtteil Mühle eine besondere Gemeinschaft gegründet hat. Enrique Ulfig ist auch deswegen zur Galionsfigur der Mühle geworden, weil er allein schon aufgrund seiner körperlichen Präsenz Durchsetzungsvermögen vermittelt. Er wird mit ausgesuchtem Respekt begrüßt, das fällt auf.

Der harte Kern des Mühlener Organisationsteams: Enrique Ulfig mit Ehefrau Duygu (Mitte), Jens Sonntag (dritter von links, hinten) und Volkan Berber (links). Fotos: Eisenmenger
Der harte Kern des Mühlener Organisationsteams: Enrique Ulfig mit Ehefrau Duygu (Mitte), Jens Sonntag (dritter von links, hinten) und Volkan Berber (links). Fotos: Eisenmenger

Angefangen hat die Hilfe zur Selbsthilfe in der Mühle unmittelbar nach der Flutkatastrophe in Stolberg. „Es gab anfangs nichts. Wir sagten uns: Da müssen wir selbst etwas organisieren“, erinnert sich Ulfig, der auf der Mühle aufgewachsen ist. Über WhatsApp alarmierte das Ehepaar Freunde und Bekannte. Innerhalb kürzester Zeit entstand ein weit verzweigtes Netzwerk.

„Es wird einfach getan, was nötig ist“

In Herzogenrath hatte Jens Sonntag, der ebenfalls aus Stolberg stammt, den gleichen Gedanken und fuhr mit Familienangehörigen auf eigene Faust in seine alte Heimatstadt. Dort traf er das Ehepaar Ulfig, Berber und die anderen. „Zusammen sind wir stark“ – das war von Beginn an das Credo. „Auf dem Mühlener Markt lag meterhoch Gerümpel und Müll“, erinnern sich die Männer. „Ohne die Hilfe des Stolberger Unternehmens CAE, das mit 70 Mitarbeitern vor Ort war, hätten wir gar nicht starten können. Das war der Wahnsinn!“, berichtet Ulfig. Auch das Technische Betriebsamt der Stadt Stolberg schickte schweres Gerät. „Diese Menschlichkeit und dieser Zusammenhalt… Man braucht wenig zu reden, es wird einfach getan, was nötig ist“, beschreibt Sonntag. Wie das ist, wenn die eigene Existenz bedroht ist, weiß der 31-Jährige genau: „Eigentlich bin ich Veranstaltungsmanager, aber wegen des Coronavirus habe ich umgesattelt und eine Ausbildung in der Pflege begonnen.“

Nachdem mit vereinten Kräften der Mühlener Markt wieder einigermaßen nutzbar gemacht wurde, sind in zwei Geschäften provisorisch Lager eingerichtet worden. Eins davon gehört Volkan Berber. Sein Geschäft für Telekommunikation liegt in Trümmern, aber ein Lagerraum war noch geeignet für den Zweck. Nach der Höhe des Schadens gefragt, antwortet der 41-jährige Geschäftsmann im Brustton der Überzeugung: „Im Leben ist es wie im Boxsport – du musst aufstehen, wenn du am Boden liegst! Dann fängt man halt wieder von vorne an, man muss nach vorne schauen. Wir können dankbar sein, mit dem Leben davongekommen zu sein.“ In der Anfangsphase, so schätzt das Team, kamen täglich rund 500 Menschen – die Helfer mitgezählt.

Der Pflegedienst kam nicht mehr

Der Stolberger Rene Weber, dessen Bäckerei inklusive der drei Cafés zerstört wurde, ist einer davon. Die Bäckerei ist gleich nebenan; er unterstützt das Team mit Strom. „Wir müssen einander helfen“, sagt Weber voller Überzeugung. Der Stolberger ist aschfahl vor Erschöpfung, er arbeitet bis zum Umfallen. Weber beschreibt, wie das Wasser kam, wie er versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Das Wasser hat unter anderem die heiße Ofenbrennkammer bersten lassen. „Die Stolberger Firma Eversheim hatte die Brennkammer für mich in anderthalb Tagen produziert – und sie mir geschenkt“, sagt der Bäckermeister und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. „So, ich muss jetzt etwas essen“, sagt Weber, atmet tief durch und geht zu einem der Imbissstände auf dem Mühlener Markt.

Dort sitzt an einem Tisch Ayse Schlosser, die das emsige Treiben beobachtet. „Dieses Hochwasser war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe“, sagt die 59-Jährige, die gemeinsam mit ihrem schwerkranken Mann im Stadtteil Mühle lebt. „Der Pflegedienst kam nicht mehr, über Tage. Kein Telefon, kein Internet, nichts ging.“ Irgendwann war Ayse Schlosser so verzweifelt, dass sie den „Captain und seine Jungs“ um Hilfe bat. „Einer von denen kannte sich gut aus in der Krankenpflege und hat geholfen. Ich bin so unendlich dankbar.“ Anfangs habe sie sich geschämt, kostenlos Essen zu holen, „aber man ist ja froh für diese Unterstützung“. Am Wochenende ist auf dem Mühlener Markt ein DJ-Pult aufgebaut, die Beats wummern. „Eigentlich sollte heute unser Abschlussfest sein“, so der „Captain“, „aber meine Frau hat beschlossen, noch ein paar Tage dranzuhängen. Also müssen wir Männer mitziehen“, erzählt er und lacht. Dann wird Ulfig ernst. „Hier ist ein ganz besonderer Zusammenhalt entstanden. Den wollen wir bewahren, uns stärker vernetzen, Dinge verbessern.“ Und auch ein Fest soll es künftig jährlich geben. Damit dieser besondere Spirit, der infolge der verheerenden Flutkatastrophe von Mitte Juli entstanden ist, weiterhin gelebt wird.

So können die OZ-Leser helfen

Seit über einer Woche läuft die Spendenaktion der Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO), zu der auch diese Zeitung gehört. Über das Hilfswerk „Ein Herz für Ostfriesland“, eine Tochter der ZGO, wird Geld für Menschen in Eschweiler und Stolberg gesammelt. Die Orte wurden besonders hart von der Flut getroffen.

Das Spendenkonto lautet: „Ein Herz für Ostfriesland gGmbH“, IBAN: DE 55 2859 0075 0011 1112 00 bei der Ostfriesischen Volksbank eG, Leer. Gespendet werden kann auch hier direkt über Paypal. Jeder einzelne Spenden-Euro geht an die Flutopfer. Die Verwaltungskosten der „Ein Herz für Ostfriesland gGmbH“ werden komplett von der Zeitungsgruppe Ostfriesland getragen. Es gibt keinerlei Verrechnungen oder Abzüge.

Wer nicht möchte, dass sein Name in der Zeitung veröffentlicht wird, muss das bitte auf der Überweisung vermerken. Bis zu einer Spende von 199 Euro erkennt das Finanzamt den Einzahlungsbeleg an. Bei höheren Beträgen können Spendenquittungen ausgestellt werden. Nähere Informationen gibt es per E-Mail.

Weitere Infos zur Aktion gibt es hier.

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