Krieg in der Ukraine

Ukrainische Nacht in Aurich: Gespräch mit Helfern und Geflüchteten

| | 24.04.2022 20:43 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Durch Jochen Wessels und den Rettungswagen kam alles ins Rollen. Jetzt werden Unterstützer gesucht. Foto: Ortgies
Durch Jochen Wessels und den Rettungswagen kam alles ins Rollen. Jetzt werden Unterstützer gesucht. Foto: Ortgies
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Bei der ukrainischen Nacht der Brüder Wessels in Aurich kommen Helfer, Unterstützer und Geflüchtete ins Gespräch: Es geht um einen sinnlosen Krieg, Feindbilder und neue Pläne.

Aurich - Es ist 23 Uhr, als die ukrainische Nacht der Brüder Wessels in Aurich original ukrainisch wird: Discolicht, laute Musik vom Handy. Frauen in Party-Kleidern und Kinder tanzen zu Liedern ukrainischer Popstars. „Das ist die echte Ukraine“, bestätigt Anna Bautina aus Kiew auf Englisch und lächelt ein wenig müde. Die zierliche blonde Frau hat viel erzählt an diesem Abend. Dabei hat sie ihre Flucht aus der Ukraine wieder und wieder erlebt. Zum Feiern fehlt ihr jetzt die Kraft. Aber sie hält tapfer durch – auch das ist die Ukraine.

Was und warum

Darum geht es: Unsere Zeitung hat mit Helfern und Geflüchteten über den Krieg in der Ukraine gesprochen.

Vor allem interessant für: Helfer und alle, die aktiv werden wollen .

Deshalb berichten wir: Die Brüder Wessels aus Aurich haben Helfer, Unterstützer und Geflüchtete miteinander ins Gespräch gebracht.

Die Autorin erreichen Sie unter: n.boening@zgo.de

Im Haus von Jochen Wessels sehen sich an diesem Tag viele zum ersten Mal, die zuvor meist durch die Zeitung, soziale Medien oder per Handy voneinander gehört oder gelesen haben. Helfer, Flüchtlinge, Unterstützer. Dabei ist auch Hendrik de Vries, der als einer der ersten aus der Gemeinde Ihlow Hilfstransporte an die ukrainische Grenze gebracht hat und mit 50 Flüchtlingen zurückkam. Natürlich sind alle drei Wessels-Brüder da, sie veranstalten den Abend. Jochen Wessels, der mit seinem Bruder Detlef mit einem auf eigene Kosten umgebauten Rettungswagen in die Ukraine gefahren ist. Der Dritte, Holger Wessels, hat im Hintergrund die Organisation übernommen. Sie wollen an diesem Tag ein Netz knüpfen aus Helfern, Unterstützern und Ukrainern. Jede Idee, jede Fähigkeit zählt.

Wir waren nicht vorbereitet

Auch der Lebensgefährte von Anna Bautina ist dabei: Der gebürtige Barßler Michael Kröger ist für kurze Zeit aus Kiew zurück und sammelt Hilfsgüter für die nächste Tour in seine neue Heimat – die Ukraine. „Unser Land“, nennt er sie. Angst hat er nicht. „Ich war Soldat, ich bin dafür ausgebildet“, sagt er. Was er nicht ertragen konnte war Anna Bautina in Gefahr und die Kinder bei Fliegeralarm auf dem Spielplatz zu sehen – im Hintergrund die dumpfen Einschläge der Bomben in der Ferne. Für ihn stand in den ersten Kriegstagen fest: Anna und ihr Sohn müssen mit der Nachbarsfamilie zu seinen Eltern nach Barßel reisen. In Sicherheit.

Anna Bautina und Michael Kröger kommen aus Kiew. Sie hat sich in Barßel in Sicherheit gebracht – er hilft in der Ukraine. Foto: Böning
Anna Bautina und Michael Kröger kommen aus Kiew. Sie hat sich in Barßel in Sicherheit gebracht – er hilft in der Ukraine. Foto: Böning

Da wohnen sie jetzt etwa seit Anfang März. „Manchmal komme ich in dieser heilen Welt zu mir und erinnere mich plötzlich, was in meiner Heimat los ist“, sagt Bautina. „Wir waren auf den Krieg genauso unvorbereitet wie alle anderen Menschen in Europa. Stell dir vor, genau jetzt bricht hier plötzlich ein Krieg aus. Genauso ging es uns“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Niemand habe jemals damit gerechnet. Dann fielen am 24. Februar die ersten Bomben.

Die Fratze des Krieges

Michael Kröger erzählt am ukrainischen Abend den Krieg aus seiner Sicht. Er führt ein Kriegstagebuch. Auf Facebook zeigt er die gemäßigte Version und über den Messenger-Dienst Telegram die ganze hässliche Fratze des Krieges. Die Zerstörung, die Toten, den Wahnsinn. „Ich habe das Gefühl, ich müsste das alles mitteilen, damit alle sehen können, was in der Ukraine los ist“, sagt er. Am liebsten würde er selbst für die Ukraine kämpfen. Aber auch die Hilfstransporte sind wichtig, die Fotos und Videos. Dokumentieren. Hinsehen. Helfen.

Der Rettungswagen hat Helfer, Unterstützer und Flüchtlinge in Aurich zusammengebracht. Foto: Böning
Der Rettungswagen hat Helfer, Unterstützer und Flüchtlinge in Aurich zusammengebracht. Foto: Böning

Die Katze im Jutebeutel

Anna Bautinas Sohn geht in Barßel zur Schule. Sie ist Englischlehrerin, spricht die Sprache perfekt. Ihr Sohn auch. „Deshalb haben wir kaum Probleme, uns hier zurechtzufinden“, sagt sie. Nur ihr Schuldeutsch ist eingerostet. Sie trainiert es mit der Mutter ihrs Partners. Der zeigt gerade ein Foto von ihrem Abreisetag in Kiew. Auf einem Bild ist ein überfüllter Bahnsteig an einem kleineren Bahnhof außerhalb des Zentrums zu sehen. Bautina erzählt, wie sie und ihr Sohn mit dem Menschenstrom in ein Abteil gepresst wurden. Auf dem Bahnsteig in Lwiw war es noch schlimmer. Mittendrin sie, ihr Sohn, die Koffer und an ihrem Arm der Jutebeutel mit ihrer Katze. „Die Katze war die ganze Zeit über wie erstarrt. Sie aß nicht, trank nicht und ich dachte, sie würde sterben.“ Zwei Tage dauerte die Flucht per Zug und Bulli. Dazwischen viel Wartezeit an der Grenze. Eine ganze Nacht unter freiem Himmel – die zitternde Katze unter ihrer Jacke an sich gedrückt.

Anna Bautina versucht zu verstehen, was passiert ist. „Die meisten Russen sehen in uns wertlose und nutzlose Menschen. Für manche sind wir noch nicht einmal Menschen.“ Sie hat versucht zu verstehen, wie das alles passieren konnte. „Die russischen Medien haben eine ausgeklügelte Sprache. Sie setzen Ideen in die Köpfe der Menschen, gegen die viele machtlos sind. Sie schaffen Feindbilder und kreieren Bedrohungsszenarien“, sagt sie. „Am Ende fragst du dich, ob nicht wirklich etwas dran ist. Dann haben sie gewonnen.“ Sie will nicht hassen, aber manchmal kommt es über sie.

Die Wessels wollen nicht mehr selbst in die Ukraine fahren, die Ukraine hat genügend gute Ärzte. Vielleicht wird der Rettungswagen ohne sie dort zum Einsatz kommen. Genaue Pläne gibt es aber noch nicht. Erst einmal unterstützen sie Michael Kröger für seine nächste Tour. Außerdem suchen sie weiter: Spenden, Hilfsgüter, Helfer. Am Ende des Tages sollen die Gäste abschalten, gemeinsam entspannen und versuchen, auf andere Gedanken zu kommen – bei einer echten ukrainischen Disco.

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