Best of 2022 Leeraner weigerte sich, Strom für wildfremde Wohnung zu bezahlen

| | 26.12.2022 13:11 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 10 Minuten
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Helmut Hormig vor einem Leeraner Mehrfamilienhaus, in dem er nie eine Wohnung besaß oder genutzt hat. Das hinderte die EWE aber nicht daran, mit ihm einseitig einen Liefervertrag für eine der Wohnungen abzuschließen und – trotz Widerspruch – ein Mahnverfahren einzuleiten. Foto: Ellinger
Helmut Hormig vor einem Leeraner Mehrfamilienhaus, in dem er nie eine Wohnung besaß oder genutzt hat. Das hinderte die EWE aber nicht daran, mit ihm einseitig einen Liefervertrag für eine der Wohnungen abzuschließen und – trotz Widerspruch – ein Mahnverfahren einzuleiten. Foto: Ellinger
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Der Erfindergeist der EWE ist ungebrochen: Einen Leeraner hat sie zum Eigentümer einer wildfremden Wohnung erklärt. Er sollte den dort verbrauchten Strom zahlen. Die EWE drohte mit Gericht und Schufa.

Die EWE hat spätestens Mitte des Jahres 2021 begonnen, Energieverbraucher auf abwechslungsreiche Art zu verärgern. Seit dem Frühjahr 2022 hat unsere Zeitung regelmäßig über solche Fälle berichtet. Eine besonders kuriose Fehlleistung unter den Fehlleistungen der EWE war das Rechnungs- und Mahnverfahren zum Nachteil von Helmut Hormig. Er sollte den Energieverbrauch für eine Wohnung bezahlen, mit der er nie etwas zu tun hatte. Und er war kein Einzelfall, wie sich im Nachgang herausstellte. Was war passiert?

Ostfriesland/Oldenburg - Kann man Stromkunde bezüglich einer Wohnung werden, die einem nie gehört hat, die man nie bewohnt hat und für die man nie einen Liefervertrag abgeschlossen hat? Normalerweise nicht. Es sei denn, man lebt in einem Bereich von Ostfriesland, in dem die EWE Netzbetreiber und Grundversorger für Strom und Gas ist.

Die EWE ist ideenreich, wenn es darum geht, für ihren Vertriebszweig neue Lieferverträge zu generieren. Seit Monaten gehen Beschwerden in unserer Redaktion ein. Weil die EWE beispielsweise Leute als Grundversorgungskunden willkommen heißt, deren entsprechende Immobilien längst verkauft sind – im Extremfall seit mehr als 20 Jahren.

Wie die EWE versucht, Leute in Energielieferverträge zu zwängen

Die EWE erfindet offenbar auch mal einen Umzug oder einen Wohnungsleerstand. Das ermöglicht es ihr, Verträge für Strom- und Gaslieferungen abzuschließen – ohne dass der Vertragspartner dafür unterschreiben müsste. Das liegt daran, dass die EWE in vielen Bereichen Ostfrieslands als Grundversorger fungiert. Und das macht Vertragsabschlüsse ziemlich einfach, wie die EWE-Pressestelle erklärt: „Ein Grundversorgungsvertrag ist gesetzlich geregelt und kommt durch das sogenannte konkludente Verhalten zustande, das heißt bei einem Einzug in eine neue Wohnung und das Betätigen des Lichtschalters kommt automatisch ein Grundversorgungsvertrag zustande.“

Die EWE scheint Verträge vor allem „automatisch“ abzuschließen – und dazu müssen Betroffene nicht mal einen Lichtschalter drücken. So hat die EWE im Fall der Leeraner GEVO GmbH einfach mal behauptet, sie habe einen Vertrag mit der Firma – und mit dieser Begründung den Gasliefervertrag von GEVO bei den Stadtwerken Düsseldorf gekündigt. „Zum Zeitpunkt der Kündigung mussten die Stadtwerke Düsseldorf davon ausgehen, dass zwischen Kunde und EWE ein gültiger Vertrag abgeschlossen worden war“, erklärten die Stadtwerke auf Anfrage unserer Zeitung. „Zu weiteren Details in diesem Fall kann Ihnen nur die EWE Auskunft geben.“ Die EWE wollte sich aber weder zu Details noch sonst irgendwie zu diesem Fall öffentlich äußern.

EWE erklärte Leeraner einfach mal zum Eigentümer einer Wohnung

Nachdem unsere Zeitung einige Berichte über das Geschäftsgebaren der EWE veröffentlicht hatte, meldete sich der Leeraner Helmut Hormig per E-Mail in unserer Redaktion: „Ich kann (leider) noch einen draufsetzen.“ Was war passiert? „Anfang Dezember 2021“ habe ihn die EWE „zum Eigentümer einer Wohnung im Westerende [...] hier in Leer gemacht“, schrieb Hormig. „Eine Wohnung, die mir weder gehört noch jemals gehört hat – und die ich auch nicht gekauft habe oder beabsichtige, sie zu kaufen.“

Hormig hat unserer Zeitung den Schriftverkehr vorgelegt. Die EWE hieß ihn am 7. Dezember als Kunden „herzlich willkommen“ – adressiert an seine Wohnanschrift, die sich nicht einmal in derselben Straße befindet wie die Wohnung, deren Energieverbrauch er fortan zahlen sollte. „Sie erhalten unser Produkt EWE Strom comfort“, schrieb die EWE. „Den Vertragsabschluss für dieses Produkt bestätigen wir Ihnen.“ Einen Vertrag, den er nie abgeschlossen hatte. Die EWE Vertrieb GmbH erklärte: „Ihre Anmeldung erfolgte aufgrund einer Meldung vom Netzbetreiber“ – also der EWE Netz GmbH. Wegen „Leerstand“. Die EWE nahm demnach an, dass Hormig der Wohnungseigentümer ist.

EWE will „besser werden“ und sich „technisch besser aufstellen“

„Am 9. Dezember, 17.10 Uhr, rief ich bei der Kundenhotline der EWE an“, berichtet Helmut Hormig. Der Herr am Telefon habe ihm ausdrücklich versprochen, diesen „Fehler im System“ richtigzustellen. „Damit sollte das Schreiben hinfällig sein.“ Doch mit Datum vom 10. Januar schrieb ihm die EWE erneut wegen der Wohnung – um ihm „mehr Service“ zu versprechen: „Wir wollen besser werden. [...] Dafür müssen wir uns technisch besser aufstellen. Dazu gehört ein moderneres System zur Kundenbetreuung.“

Auch die folgenden Zeilen von „Ihr EWE Team“ könnten auf einen Kunden wider Willen wie Realsatire wirken: „Unsere Idee von gutem Kundenservice ist, Sie klar und verständlich zu informieren. [...] Wir freuen uns auf Ihr Feedback. [...] Melden Sie sich gerne, falls uns ein Fehler passiert ist.“ Es war ein Fehler passiert – und die EWE bekam das gewünschte „Feedback“, also eine Rückmeldung von Helmut Hormig: „Am 17. Januar rief ich gegen Abend erneut bei der Hotline an und verlangte den Abteilungsleiter.“ Der habe ihm „intensiv versichert“, der „Fehler im System“ sei beseitigt und das Schreiben hinfällig.

Wie viel Strom verbraucht eine leerstehende Wohnung im Westerende?

Doch am 11. Februar bekam der Leeraner von der EWE die „neuen Preise“ für die Wohnung im Westerende mitgeteilt: „Zum 01.04.2022 ändern sich die Preise für Ihr Stromprodukt.“ Und: „Die Preise werden automatisch angepasst, das heißt Sie brauchen nichts weiter zu tun.“ Helmut Hormig verließ sich auf die Zusicherung des EWE-Abteilungsleiters – und damit war er verlassen. Denn am 11. März bekam er eine Rechnung für die Wohnung. Für einen Stromverbrauch, der übrigens nicht unbedingt auf einen – weiter von der EWE angenommenen – „Leerstand“ hindeutet: Für 953 Kilowattstunden Strom sollte er 337,86 Euro bezahlen.

„Mit dieser Rechnung und dem gesamten bisherigen Schriftverkehr suchte ich dann das EWE-Kundencenter auf und erklärte einem mittelmäßig interessierten Mitarbeiter den Sachverhalt“, so Hormig. „Immerhin tippte er alle relevanten Informationen in das ,System‘ ein und schickte diese Infos an die zuständige Stelle. Ich solle mir keine Sorgen machen – der Fall wäre jetzt erledigt.“

EWE leitete trotz Widersprüchen Mahnverfahren für fremde Wohnung ein

Die Hoffnung, dass es dieses Mal geklappt haben könnte, währte nicht lange. Mit Datum vom 12. April schickte die EWE eine Mahnung an Helmut Hormig: „Sicherlich ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, den fälligen Abrechnungsbetrag zu bezahlen.“ Zuzüglich zwei Euro für die „Kosten dieser Mahnung“ belief sich die geforderte Summe jetzt auf 339,86 Euro.

„Da ich den Artikeln in der OZ mittlerweile entnommen hatte, dass die EWE angeblich intensiv am Kundenservice arbeitet, unternahm ich dieses Mal gar nichts“, teilte Hormig unserer Zeitung mit. „Auch, weil ich mittlerweile erheblich Arbeitszeit in den Fall gesteckt habe, die mir ja wohl niemand bezahlen wird.“

EWE drohte mit Gericht, „erheblichen Kosten“ und Schufa-Mitteilung

Aber die EWE ließ nicht locker und schickte am 25. April die nächste Mahnung mit „Ankündigung des gerichtlichen Forderungseinzugs“. Inzwischen sollte Hormig 341,86 Euro bezahlen – bis zum 24. Mai. „Sollten Sie diesen Termin nicht einhalten, werden wir unsere Forderungen auf gerichtlichem Wege geltend machen“, drohte die EWE. „Hierdurch würden Ihnen weitere erhebliche Kosten entstehen.“

Die EWE setzte aber noch einen drauf: „Weiterhin werden wir Daten über die nicht vertragsgemäße Abwicklung von fälligen und unbestrittenen Forderungen an die Schufa Holding AG übermitteln, soweit die vorstehend genannten Forderungen nicht ausgeglichen werden.“ Der Leeraner solle, so forderte ihn „Ihr EWE-Team“ auf, „uns bitte diese unangenehme Maßnahme ersparen, indem Sie rechtzeitig zahlen“. Für den Stromverbrauch in einer Wohnung, die offenbar weder Helmut Hormig gehört noch leerzustehen scheint. „Daraufhin habe ich mich entschlossen, mich an Sie zu wenden“, schrieb der Betroffene unserer Redaktion am 27. April.

Presseanfrage: Was sagt die EWE zu ihrem Geschäftsgebaren?

Unsere Zeitung hat am 5. Mai eine Presseanfrage an die EWE gerichtet: „Wie kommt es, dass Herr Hormig eine Rechnung für eine Wohnung bekommt, die er nie besessen hat? Wie kommt es, dass Herr Hormig mehrere Mahnungen bis hin zur Androhung des gerichtlichen Forderungseinzugs für besagte Wohnung bekam, obwohl er sich offenbar mehrfach an die EWE gewandt hatte und bei jedem Versuch scheinbar erfolgreich Widerspruch eingelegt hatte?“

Die EWE wollte diese Fragen nicht beantworten. Auch nicht die Fragen zu neun weiteren Energieverbrauchern. Aber: „Wir bedauern, dass die Kunden augenscheinlich unzufrieden mit unserem Service sind.“ Aber was heißt hier Kunden? Helmut Hormig: „Ich beziehe übrigens schon seit vielen Jahren weder Strom noch Gas von der EWE, da ich Genossenschaftsmitglied bei ProEngeno in Jemgum bin und mir damit quasi meine Energie selbst verkaufe.“

Das EWE-System – und dazu auch noch Corona und die Ukraine?

Die EWE-Pressestelle teilte weiter mit, „dass wir diese Thematik nur mit den Kunden besprechen und diese Fälle nicht jeweils medial thematisieren werden“. Die Informationen aus der Presseanfrage würden „umgehend an unseren Kundenservice weitergegeben“. Dieser werde sich „mit den Kunden in Verbindung setzen und sich bemühen, zeitnah eine Lösung im Sinne der Kunden zu erreichen“.

Am 9. Mai meldete sich Helmut Hormig wieder in der Redaktion: Eine EWE-Mitarbeiterin habe ihn „heute Morgen angerufen, um mir fröhlich mitzuteilen, dass die Verträge auf meinen Namen zur Lieferstelle Westerende [...] storniert seien“. Die Schuld habe sie auf „das System“ geschoben. Auf seinen Hinweis, dass „das System“ immer noch von Menschen bedient werde, sei „dann die Ukraine und Corona ins Spiel gekommen“.

An diese EWE-Adresse können sich verärgerte Verbraucher wenden

Hormig merkte gegenüber unserer Zeitung an, dass er auch EWE-Konzernvorstandsmitglied Michael Heidkamp in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der EWE Vertrieb GmbH und deren Geschäftsführer Oliver Bolay und Ludwig Kohnen angeschrieben habe. Mit der Bitte, das „Theater“ in seinem Fall zu beenden. Die EWE-Mitarbeiterin, die sich nun bei ihm gemeldet habe, habe aber nicht etwa auf diese Schreiben reagiert: „Angerufen hat sie mich nur wegen Ihrer Anfrage“ – also der Presseanfrage.

Die EWE-Mitarbeiterin scheine aber nicht einmal selbst daran zu glauben, dass sein Fall nun erledigt sei. Das schloss Helmut Hormig aus einer E-Mail, die er von ihr ihm Nachgang des Telefonats erhielt. Darin habe sie geschrieben: „Zunächst gehe ich aber davon aus, dass dieser Fehler nun nicht noch einmal vorkommen wird.“ Andernfalls solle er sich direkt an folgende E-Mail-Adresse wenden: EEWEBeschwerden_3rd_Level@ewe.de (das doppelte E am Anfang ist kein Schreibfehler).

EWE stoppte Mahnverfahren – hielt aber am Wohneigentum Hormigs fest

Nur einen Tag später, so berichtet Helmut Hormig, habe die EWE ihm mitgeteilt, dass die Rechnung in Höhe von 337,86 Euro storniert sei. Sie führe ihn aber weiterhin als Eigentümer der Wohnung im Westerende. Hormig wandte sich daraufhin an die erwähnte EWE-Mitarbeiterin: „In unserem Telefonat vom 9. Mai schienen Sie persönlich die rechtliche Brisanz verstanden zu haben“, die darin bestehe, „mich zum Eigentümer einer Wohnung gemacht zu haben, die mir nicht gehört, niemals gehört hat und die ich auch nicht beabsichtige zu kaufen.“ Aber: „Das ,Verstehen‘ dieser Brisanz hat sich jedoch leider nicht in Handlung umgesetzt – Ihre formlose Mail vom 9. Mai ist durch das Schreiben vom 10. Mai konterkariert worden.“

Außerdem gab Hormig noch einen Rat – bevor die EWE noch weitere Leeraner zu Wohnungseigentümern mache und „sie mit Rechnungen und Mahnungen überzieht: Bei der Firma IGK Immobilienagentur in Rhauderfehn können Sie den wahren Eigentümer der Wohnung erfragen – die verwalten den Wohnblock“.

Reagiert EWE auf „Androhung strafrechtlicher Konsequenzen“?

Von einem darauf folgenden Anruf der EWE-Mitarbeiterin berichtete der Betroffene folgendes: „Heute versuchte sie mir weiszumachen, dass eine Rechnungsstornierung dasselbe sei wie eine Stornierung des gesamten Vertrages. Damit kam sie bei mir natürlich nicht durch und ich bestand auf meiner Forderung nach einer eindeutigen Stornierung des gesamten Vetrages. Sie erklärte mir, dass so etwas im ,System‘ nicht vorgesehen sei, sie wolle sich aber dafür einsetzen, dass ich trotzdem eine solche bekäme.“

Etwas später meldete sie sich per E-Mail bei ihm: „Ich habe nochmal mit dem Fachbereich gesprochen. Der Vertrag ist definitiv storniert. Die ,0,00er-Rechnung‘ hätte auch gar nicht an Sie verschickt werden sollen. Diese dient der internen Dokumentation. Postalisch lasse ich Ihnen eine Stornierungsbestätigung zukommen.“ Helmut Hormig hat folgenden Eindruck gewonnen: „Mir scheint, dass sich bei der EWE dann etwas bewegt, wenn die glaubhafte Androhung strafrechtlicher Konsequenzen mit massiver Öffentlichkeitsarbeit der Presse zusammenkommt.“

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