Best of 2022 „Die Pestalozzischule darf nicht geschlossen werden“

Katja Mielcarek
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Von Katja Mielcarek
| 29.06.2022 17:52 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Die Schüler der Pestalozzischule sind sich einig: Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen muss es auch in Zukunft geben. Foto: Ortgies
Die Schüler der Pestalozzischule sind sich einig: Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen muss es auch in Zukunft geben. Foto: Ortgies
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Förderschulen wie die Leeraner Pestalozzischule sollen bis 2028 geschlossen werden. Das steht im Schulgesetz. Dagegen regt sich Widerstand – nicht nur in Leer.

Das Thema hat mir deutlich vor Augen geführt, wie wenig die Entscheidungen, die in Hannover getroffen werden, manchmal mit der Wirklichkeit der Betroffenen zu tun haben. Schüler mit Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, die an Regelschulen oft gemobbt wurden, hatten an den Förderschulen Lernen einen Schutzraum gefunden. Der wird ihnen jetzt genommen. Die Schilderungen der Schüler haben mich betroffen gemacht.

Leer - Im nächsten Schuljahr dürfen in Niedersachsen Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen zum letzten Mal eine fünfte Klasse bilden. Mit dem Schuljahr 2027/28 soll die Schulform in Niedersachsen dann abgeschafft werden. So will es die Landesregierung, die das im Schulgesetz des Landes festgelegt hat. Die betroffenen Schüler sollen an Regelschulen gehen und dort besonders gefördert werden. Das läuft unter dem Stichwort Inklusion.

Für fünf Schüler der Leeraner Pestalozzischule ist diese Entscheidung grundfalsch. Sean-Ray (17 Jahre), Emelie (14), Elize (14), Lea-Sophie (14) und Ina (17), allesamt Klassensprecher, gehören zu den Schülern, die sich schlechter konzentrieren können oder langsamer lernen als Gleichaltrige an den Regelschulen. Sie alle haben schon ihre Erfahrungen mit den „normalen“ Schulen gemacht, teils in der Grundschule, teils auch schon an weiterführenden Schulen.

Schlimme Erfahrungen

„Für mich war es ganz schlimm“, sagt Elize und erntet zustimmendes Nicken von den anderen. Sie sei automatisch Außenseiterin gewesen, selbst – oder gerade weil – sie soweit das im Rahmen des Unterrichts möglich war, besonders gefördert und auch entlastet wurde. „Die anderen schauen auf dich runter, du wirst gehänselt und gemobbt“, sagt Sean-Ray. Die Kinder und Jugendlichen verbrächten viele Stunden des Tages in der Schule, umso wichtiger sei es, dort Freunde zu finden, sagt Ina, die Schulsprecherin der Pestalozzischule. Stattdessen müssten sie mit Ablehnung und Diffamierungen zurechtkommen. Die Lehrer könnten das kaum verhindern: „Von denen wird schon so viel verlangt, was sollen die denn noch alles machen?“

Die Folgen: Ein Knoten im Bauch beim Gedanken an die Schule, Versagensangst, Wut, Blockaden, Minderwertigkeitsgefühle, zählen die Schüler auf. Bei ihrer Tochter sei es so weit gegangen, dass sie sich entgegen ihres eigentlichen Naturells schlicht geweigert hätte, in die Schule zu gehen, erzählt Christel Höger. Sie gehört zur Elternvertretung der Pestalozzischule. „Seit meine Tochter hierhin geht, ist sie förmlich aufgeblüht. Sie schreibt gute Noten, ist selbstbewusst und fröhlich.“

An der Realität gescheitert

Inklusion sei sicher eine schöne Idee, sagt Höger. In der Realität scheitere die Umsetzung aber völlig. „Schon alleine, weil nicht genug geschultes Personal da ist, um einerseits die Förderschüler fachlich zu unterstützen und andererseits die soziale Kompetenz der anderen Schüler zu schulen, damit es keine Ausgrenzung und kein Mobbing gibt.“

Gegen die Schließung der letzten Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen regt sich nun landesweit Widerstand – viele Kommunen und Kreise haben ihre Schule schon vorzeitig auslaufen lassen, so in Hesel und in Moormerland. In Salzgitter hat der Rat auf Antrag der CDU beschlossen, dass die Stadt ihre Förderschule über 2028 hinaus weiterführen will. Der dortige Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU) müsse das nun dem Land mitteilen, sagt Jasmin Bartels. Sie gehört zu einer Elterninitiative, die mehr als 5000 Stimmen für eine Petition für den Erhalt der Schule gesammelt hat. Damit ist der Landtag verpflichtet, das Thema neu zu diskutieren. CDU und FDP unterstützten das Anliegen, sagt Bartels.

Unterstützung von CDU und FDP

Das ist auch in Leer so. Die CDU-Stadtratsfraktion werde intensiv bei den Landkreis- und Landespolitikern für den Erhalt der Pestalozzischule werben, kündigt der Fraktionsvorsitzende Ulf-Fabian Heinrichsdorff an. Erster Ansprechpartner ist dabei Landtagsabgeordneter Ulf Thiele. Und der schreibt der Redaktion, dass die betroffenen Kinder und deren Eltern die Verlierer wären, wenn die Pestalozzischule als letzte verbliebene Schule ihrer Art im Landkreis geschlossen werde. „Das Schulgesetz muss so angepasst werden, dass die Befristung der Förderschule Lernen entfällt“, so seine Forderung.

„Die FDP will Wahlfreiheit bei der Schulform auch für Schüler mit Handicap“, sagt Kreistagsabgeordneter Carl Friedrich Brüggemann. Das Recht auf Inklusion dürfe keine Pflicht sein. Deshalb sehe seine Partei das Auslaufen der Leeraner Pestalozzischule „sehr kritisch“. Der Landkreis als Schulträger müsse vor der Schließung der Schule nachvollziehbar darstellen, dass „eine zur Förderschule gleichwertige inklusive Beschulung in anderen weiterführenden Schulen vor Ort gewährleistet ist.“

Daran, dass das derzeit möglich ist, glauben die Pestalozzischüler nicht, sagt Lea-Sophie. „Die mobben uns weg“, sagt Sean-Ray voraus. Und Emelie sagt: „Vielleicht sollten die Politiker einfach mal die Schüler fragen, bevor sie so etwas beschließen.“

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