Blindsein in Ostfriesland Dafür sind die Leitstreifen am Bahnhof wirklich da

| | 14.06.2023 18:14 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Die Leitlinien am Bahnhof sollten für Blinde und Sehbehinderte freigehalten werden. Foto: Hildenbrand/DPA
Die Leitlinien am Bahnhof sollten für Blinde und Sehbehinderte freigehalten werden. Foto: Hildenbrand/DPA
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Der Blinden- und Sehbehindertenverband hat Pflegeschülern einen Einblick in das Blindsein gegeben: Betroffene erzählten von ihren Erfahrungen. Viele lernten etwas Neues.

Leer - Der Blinden- und Sehbehindertenverband in Ostfriesland hat sich etwas Besonderes ausgedacht: Eine Woche lang hat er Klassen der Pflegeschulen zu sich nach Leer eingeladen – zwei Stunden dürfen Pflegeschüler ausprobieren, wie es ist, sehbehindert oder blind zu sein. Wir haben eine Klasse der Ludwig-Fresenius-Schule Leer bei ihrem Besuch begleitet – und natürlich mitgemacht. Die Schülerinnen und Schüler sind am Ende des zweiten Lehrjahres in ihrer Ausbildung zur Pflegefachkraft.

Vor der Erlebniskiste stehen die Mitwirkenden: Ina Engelhardt (von links), Uwe Aßmann, Jürgen Franke, Andrea Sweers und Miriam Dolezal. Fotos: Cordes
Vor der Erlebniskiste stehen die Mitwirkenden: Ina Engelhardt (von links), Uwe Aßmann, Jürgen Franke, Andrea Sweers und Miriam Dolezal. Fotos: Cordes

An verschiedenen Stationen können die Schüler ausprobieren, wie es ist, sehbehindert oder blind zu sein. In einem Dunkelraum nach Dingen ertasten, mit Simulationsbrillen und Blindenlangstock das Gelände erkunden und in einem Café blind – also mit einer Augenmaske – mit einem blinden Menschen sprechen. Die Klasse wird in kleinere Gruppen à fünf oder sechs Schüler aufgeteilt. Als Reporterin darf ich mich einer Gruppe anschließen.

In der Erlebniskiste

Unsere erste Station ist die Erlebniskiste, das ist ein mobiler Dunkelraum. In dem Dunkelraum sollen wir blind Dinge ertasten. Zu zweit dürfen wir den Raum erkunden. Ich fühle mich sehr orientierungslos – ich habe keine Ahnung, wie es dort drin aufgebaut ist. Als Erstes ertaste ich auf der rechten Seite eine Spülbürste. Alltagsgegenstände hängen an der Wand. Viel zu spät wird mir klar, dass ich die linke Seite total ignoriert habe. Denn auch dort hängen Dinge zum Ertasten. Meine Partnerin und ich verständigen uns, warnen uns vor Überraschungen und fragen nach, wenn wir etwas nicht erkennen. Was mich wundert: Zwangsläufig müssen wir uns an den Armen berühren, um uns gegenseitig zu den Gegenständen zu führen, aber das ist gar kein Problem. Außerhalb der Kiste hätte ich das aber nicht so einfach getan.

Dieses „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel ist auch für Blinde und Sehbehinderte geeignet. Die verschiedenen Figuren, das Spielfeld sowie der Würfel sind ertastbar.
Dieses „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel ist auch für Blinde und Sehbehinderte geeignet. Die verschiedenen Figuren, das Spielfeld sowie der Würfel sind ertastbar.

Während die anderen Schüler an der Reihe sind, erzählt Jürgen Franke von seinem Leben. Er war schon immer sehbehindert, doch mit 17/18 Jahren – so ganz genau kann er es nicht sagen – wurde es durch eine Entzündung immer schlimmer. Nun ist er blind. „Den Klischeeblinden gibt es nicht, wir sind genauso Individuen wie ihr auch“, erklärt er unserer Gruppe. Und nicht nur einmal bringt er die Gruppe mit seinem Humor zum Lachen. Zu jeder Gelegenheit wirft er einen witzigen Spruch in die Runde.

Blindes Café

Als Nächstes geht es für unsere Gruppe in das Café. Dort wartet Heike Kolpack mit ihrem Blindenhund auf uns. Wir setzen uns eine Augenmaske auf, um – wie sie – nichts sehen zu können. Da ich die Gruppe kaum kenne, ist es schwer, die verschiedenen Stimmen zuzuordnen. Die anderen sprechen sich gegenseitig an und gehen aufeinander ein. Ich halte mich eher zurück. Wie muss das für Heike Kolpack sein? „Ich würde lügen, wenn ich nicht alles hergeben würde, um wieder sehen zu können“, sagt Kolpack. Mobilität sei ein wichtiger Punkt.

Die 54-Jährige erzählt von ihrer Erfahrung: Nach einer Operation wegen eines lange gewachsenen Tumors im Jahr 2015 wurde sie blind. Seit einem Jahr hat sie nun einen Blindenführhund. „Ich gebe meine komplette Sicherheit in die Hand des Hundes“, sagt sie. Und Vertrauen abzugeben sei verdammt schwer. Mit dem Hund sei sie nicht mehr alleine. Ihr Hund hat eine 2,5-jährige Ausbildung hinter sich. Nun ist sie an der Reihe und muss lernen, mit ihm umzugehen. Der Blindenhund führt sie durch die Straßen. Er zeigt Hindernisse an, wartet an Ampeln und sucht einen sichereren Weg. Ein u-förmiges Führgeschirr, das nach oben oder unten führt, hilft den beiden dabei. Wichtig sei, so Kolpack, dass man einen Blindenhund nicht ansprechen oder streicheln solle, weil der Hund arbeite.

Blind das Gelände erkunden

Mit dem Rehalehrer Uwe Aßmann testen wir den Blindenlangstock aus. Uwe Aßmann trainiert blinde und sehbehinderte Menschen mit dem Langstock in Orientierung und Mobilität. Der Blindenlangstock ist ein Hilfsmittel, um sich zu orientieren. Der Stock wird vor den Körper gehalten und im Schrittrhythmus hin und her bewegt. So kann man über den Stock Hindernisse ertasten, bevor man davorläuft. Auch die Bodenbegebenheiten können ertastet werden. Es gibt ein Leitliniensystem: Taktile Linien führen zum Beispiel Gehwege entlang. Auch an Bahnsteigen gibt es Leitlinien. Malina Buddeus erzählt von einem jungen Mann, der auf der Internetplattform Tiktok als Mr. BlindLife (Herr blindes Leben) darauf aufmerksam macht. Die Leitlinien werden nämlich als Abstandsmarkierung missverstanden. Neben den Leitlinien gibt es auch Aufmerksamkeitsfelder. Das sind dann Punkte. „Das bedeutet: ‚Achtung, da passiert etwas‘“, erklärt Uwe Aßmann. Das kann eine Ampel, ein Fußgängerüberweg oder ein Bushaltestellenschild sein.

@mr.blindlife Antwort auf @Tik Toker Leitstreifen freihalten! #gesetzlichblind #blind #leitstreifen #inklusion #blindlifefamily ♬ Originalton - Mr. BlindLife

Nun bekommen wir eine spezielle Brille aufgesetzt. Die Brille simuliert eine Augenkrankheit. Jeder bekommt eine andere und ist dementsprechend anders eingeschränkt. Ich kann vereinzelnd etwas erkennen, das aber nur verschwommen. Mit der Brille auf der Nase sollen wir den Leitlinien auf dem Gelände folgen, um wieder zurückzufinden. Da ich noch etwas erkennen kann, ist es nicht allzu schwer, dem Weg zu folgen. Doch ich merke, dass die Leitlinien schwerer zu erfühlen sind, als ich es mir vorgestellt habe, besonders der Unterschied zwischen Leitlinie und Aufmerksamkeitsfeld.

Bei dieser Übung tragen Malina Buddeus (links) und André Remmers eine Brille, die eine Augenkrankheit simuliert. Fotos: Cordes
Bei dieser Übung tragen Malina Buddeus (links) und André Remmers eine Brille, die eine Augenkrankheit simuliert. Fotos: Cordes

Am Ende bin ich froh, an dieser Veranstaltung teilgenommen zu haben. Ich kann nun besser einschätzen, wie schwer es blinde und sehbehinderte Menschen haben und weiß, wie ich auf sie zugehen kann. „Vom Regionalverein Ostfriesland ist es uns total wichtig, Inklusion zum Anfassen und Ausprobieren anzubieten“, sagt Andrea Sweers, hauptamtliche Mitarbeiterin. Auch die Pflegeschüler konnten für ihre berufliche Zukunft etwas mitnehmen.

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