Runder Geburtstag „Der Russe hat mich nie gekriegt“ – Wiesmoorerin wird 100


Als Adelheid Ipach 20 war, musste sie im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen fliehen. Im hohen Alter ist sie nach Wiesmoor gekommen und hat hier mit neuen Freunden nun ihren 100. Geburtstag gefeiert.
Wiesmoor - Im hohen Alter von 99 Jahren hat Adelheid Ipach im vorigen Jahr nochmal etwas Neues gewagt. Zum zweiten Mal in ihrem Leben hat sie ihre Heimat hinter sich gelassen – diesmal friedlich – und ist von Langenhagen bei Hannover zu ihrer Tochter Gabriele nach Wiesmoor gezogen. „Ich habe hier auch neue Freunde gefunden“, sagt sie. Die trifft sie zweimal wöchentlich in der Tagespflege des Arbeiter-Samariter-Bundes. Mit ihnen hat sie am Montag mit alkoholfreiem Sekt angestoßen, einen ganzen Tag lang auf einem mit Grün und Blüten geschmückten Thron gesessen vor einer dekorierten Krone, hat mit ihnen – ganz wichtig – „An der Nordseeküste“ von Klaus & Klaus gesungen und war Königin für einen Tag: Hat sie doch ihren 100. Geburtstag dort nachgefeiert.
Den hatte sie am Freitag im kleinen Familienkreis begangen, „und ich habe sogar einen Glückwunsch von Stephan Weil bekommen, dem Ministerpräsidenten“, sagt sie. Der Blick ist trübe geworden, „Falten im Gesicht erkenne ich nicht mehr“, sagt sie und schmunzelt. Doch der Geist ist wach. Pflegedienstleiterin Silvia Cramer sagt: „Erstaunlich ist, dass bei Adelheid eigentlich nur das Augenlicht gelitten hat, ansonsten läuft sie am Rollator und nimmt gerne an unserem Tagesgeschehen teil. Sie ist immer sehr positiv, bedankt sich für alles und bei jedem, ihre Freundlichkeit kennt keine Grenzen.“

Bittere Flucht aus Ostpreußen
Als sie im Kreise ihrer neuen Freunde auf ihr Leben zurückblickt, reisen die Erinnerungen indes ganz besonders bildhaft immer wieder etwa 80 Jahre zurück. Es ist der Moment, als sie plötzlich entwurzelt wurde, zu Fuß, in den Stiefeln ihres Vaters, nur mit etwas zugestecktem Geld neben einem Pferdekarren aus ihrer Heimat fliehen musste. Bis sie 20 Jahre alt war, wuchs die Jubilarin in einem kleinen Bauerndorf mit etwa 300 Einwohnern auf einer Waldlichtung in Masuren auf, das damals noch Dröbnitz hieß und Teil Ostpreußens war. Heute heißt es Drwęck. Etwa 35 Kilometer südwestlich von Allenstein (Olsztyn) gelegen, 170 Kilometer südlich von Königsberg (Kaliningrad). „Da lebte ich mit meinen Eltern und meinen fünf Schwestern auf einem Hof, wir hatten viele Tiere, es war ein wunderschönes Leben.“ Doch bei der Gegenoffensive zum Russlandfeldzug der Deutschen rückte nun die Sowjetarmee näher, „bis eines Tages mein Vater kam und sagte: ,Der Russe kommt. Ihr müsst gehen.‘ Mein Vater selbst ist geblieben, eine Kuh hatte gerade ein wundervolles Kalb zur Welt gebracht. ,Darum muss ich mich kümmern, und mir werden sie schon nichts tun‘, hat er gesagt.“ Der Vater floh später mit dem Rad nach Königsberg. „Wir selbst haben immer wieder bitter gehungert, ich weiß noch, wie ich stundenlang geweint habe vor Dankbarkeit, als eine Frau mir ein Stück Brot abgegeben hat. Unser Treck ist von Jagdfliegern angegriffen worden. Aber: Der Russe hat mich nie gekriegt“, sagt sie und wiederholt mehrfach: „Der Russe hat mich nie gekriegt.“

Rund 1000 Kilometer weit, übers Stettiner Haff, an der Ostseeküste entlang ging die Flucht – bis nach Vaale bei Itzehoe in Schleswig-Holstein, wo die Eisenbahnhochbrücke Hochdonn den Nord-Ostsee-Kanal überspannt und der Schwiegervater einer Freundin der damals 20-Jährigen wohnte. „Wir haben auf einem benachbarten Bauernhof geholfen Kartoffeln zu roden, durften dann selbst noch Kartoffeln stoppeln, also die übrig gebliebenen Kartoffeln absammeln und behalten.“ Eine ihrer Schwestern arbeitete und lebte seinerzeit in Schwerin, wo ihr – welch riesiger Zufall – Jahre später ein Mann auf die Schulter tippte und um etwas zu trinken bat: Es war ihr eigener Vater, der „in Lumpen, ausgezehrt, gezeichnet, mit einem Zug aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war – aus Sibirien“. Erzählt davon habe er wenig, „aber dass es dort Blaubeeren groß wie Kirschen gab“.
Familienleben in Langenhagen
Über einen Besuch bei einer weiteren Schwester, die nach Hannover gezogen war, lernte Adelheid dort Gerhard Ipach kennen, der sie zum Tanz ausführte, der ihr gefiel und den sie heiratete und mit ihm eine Familie in Langenhagen gründete. „Es war eine gute Zeit. Wir haben zwei tolle Töchter bekommen, hatten 56 Jahre lang eine gute Ehe, bis er an Leukämie verstorben ist. Damals, wenn er in Kur ging, habe ich mich gefragt: ,Wie soll ich die paar Tage ohne ihn aushalten?‘ Inzwischen sind es viele, viele Jahre.“ Sie selbst arbeitete anfangs in einer Gärtnerei, später in einer Schokoladenfabrik, ihr Mann stellte Ersatzteile beim Scheidemaschinenhersteller Wohlenberg her.
Hat sie ein Geheimnis fürs Erreichen solch eines stolzen Alters? „Ich esse unglaublich gern Mozartkugeln“, sagt sie. „Nicht rauchen wie ein Schlot, hier und da schadet auch ein kleiner Schnaps nicht.“ Wiederholt vor allem aber sagt sie immer wieder: „Nett und vernünftig zu sein, aufrichtig und zugewandt: Das ist mein größter Wunsch. Und es stimmt: Ehrlich währt am längsten.“

Ansonsten habe sie gern und viel Socken gestrickt, „bis meine Finger krumm geworden sind und ich die Maschen nicht mehr gut sehen konnte. Es ist auch beim Menschen so: Wenn Du älter wirst, geht alles irgendwann kaputt. Auch das Augenlicht ist nicht für die Ewigkeit gemacht.“ Auch hat sie gern gekocht, „vor allem Königsberger Klopse – mit viel Sahne“. Und Hering mit Pellkartoffeln. „Meinen Kaffee koche ich mir aber immer noch. Und meinen Toast toaste ich mir auch. Und schmiere ihn mir bis heute mit Butter und Frischkäse und Marmelade“, sagt sie. Und weiterhin singt sie gern. „Alte Volkslieder, auch die preußische Nationalhymne: ,Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?‘“, sagt sie. Der frühe Heimatverlust weckt Sehnsucht bis heute. Oder aber auch „An der Nordseeküste“, gemeinsam mit den Freunden in der Tagespflege.