Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ In der Seefahrtschule Timmel bekamen Abenteurer ihr Rüstzeug

| | 07.10.2023 14:57 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Dieter Rogge hat für den Dorfverein „Uns Timmel“ die Geschichte der Königlichen Navigationsschule genauer betrachtet und einige wissenswerte Details zusammengetragen. Foto: Ortgies
Dieter Rogge hat für den Dorfverein „Uns Timmel“ die Geschichte der Königlichen Navigationsschule genauer betrachtet und einige wissenswerte Details zusammengetragen. Foto: Ortgies
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In den Jahren 1846 bis 1917 wurden an der Königlichen Navigationsschule Seefahrer ausgebildet. Danach erfüllte das imposante Haus verschiedene Zwecke. In der Teestube wurden unzählige Kuchen vertilgt.

Timmel - Eine Schule für angehende Seefahrer mitten im Binnenland? Radfahrer und Touristen staunen oft angesichts des imposanten Gebäudes in Timmel. Die aus Holz gearbeiteten Details am Giebel, das Emailleschild am Haupteingang und der schwere Anker im Innenhof geben deutliche Hinweise auf den früheren Zweck des großen Gebäudes. „Einige fragen dann auch“, sagt Dieter Rogge. Er wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft der heute rein zu Wohnzwecken genutzten Immobilie. Interessierte, die ihn auf das Haus ansprechen, haben Glück. Der 70-jährige pensionierte Kriminalbeamte ist mit der Geschichte der Königlichen Navigationsschule, unter Einheimischen besser bekannt als Schipperschool, recht vertraut.

Was und warum

Darum geht es: Viele Fehntjer zog es hinaus aufs offene Meer. Damit sie wohlbehalten zurückkehren konnten, bekamen sie ab 1846 wichtige Grundlagen an der Seefahrtschule vermittelt.

Vor allem interessant für: Fehntjer und regionalgeschichtlich Begeisterte

Deshalb berichten wir: Im Rahmen der Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ wirft die Redaktion Schlaglichter auf Besonderheiten in der Geschichte Großefehns. Es sind Ereignisse, die die 14 Ortschaften und die in ihnen lebenden Menschen zu dem gemacht haben, was sie heute sind.

Die Autorin erreichen Sie unter: s.ullrich@zgo.de

Anlässlich des 1111-jährigen Bestehens von Timmel im Jahr 2011 hatte er gemeinsam mit anderen geschichtlich Interessierten wie Hartmut Schoon und Gerd Simmerin für den Dorfverein „Uns Timmel“ verschiedene ortsspezifische Themen für die Chronik „Timberlae“ ausgearbeitet. Dazu gehörte auch die Geschichte der Seefahrtschule, die einen tragischen Ursprung hatte und vor allem für mehr Sicherheit der zur See fahrenden Fehntjer sorgen sollte, schrieb er damals: „Da wegen mangelnder navigatorischer Kenntnisse ständig Schiffsverluste, vor allem in der Nordsee zu beklagen waren, wurde die erste Schule 1782 durch Friedrich den Großen in Emden eingerichtet. Es folgten 1842 Papenburg und 1846 Timmel.“ Erst auf massives Drängen der seemännischen Bevölkerung vor Ort sei im zentral gelegenen Timmel zunächst in angemieteten Räumen der erste Lehrgang mit etwa 25 Schülern aufgenommen worden. 1862 wurde die Schule an ihrem heutigen Platz errichtet.

Schiffskatastrophen kosteten viele Menschenleben

Etwa im Jahr 1740 begannen die ersten Fehntjer, mit ihren fürs Binnenland gebauten Schiffen hinaus aufs Meer zu segeln, erklärt Kerstin Buss. Die Leiterin des Fehnmuseums „Eiland“ in Westgroßefehn beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte Großefehns. Eine Weile sei das gut gegangen. Erst um 1780 sei das erste Fehntjer Schiff gesunken, gehe aus einem Kirchenbuch hervor. In den folgenden Jahrzehnten sollten viele weitere folgen. Immer wieder sank ein Schiff oder verschwand in einem Sturm spurlos auf hoher See. „Da ein großer Teil der Besatzungen der Schiffe ebenfalls vom Fehn kam, brachten Schiffskatastrophen fast immer großes Unglück über die Familien“, schrieb Heinrich Gronewold (1922-1983) seinerzeit in „Großefehn – Erzählungen und Bilder aus der ältesten ostfriesischen Fehnkolonie und ihrer Umgebung“. Immer weiter hinaus trauten sich die Fehntjer Seefahrer mit ihren Schiffen. Sie bereisten die Weltmeere.

Die kunstvollen Details am Giebel des imposanten Gebäudes sind weithin sichtbar. Heute wird die Immobilie rein zu Wohnzwecken genutzt. Foto: Ortgies
Die kunstvollen Details am Giebel des imposanten Gebäudes sind weithin sichtbar. Heute wird die Immobilie rein zu Wohnzwecken genutzt. Foto: Ortgies

Gronewold verweist auf Quellen aus der Zeit um 1860. Diese zeigten, „dass der Seemannsberuf in diesen Zeiten ein recht gefahrvoller war“. Im Jahr 1864 sank zum Beispiel die „Louise“. Mit trauriger Regelmäßigkeit waren menschliche Verluste zu beklagen. Der Anteil der seefahrenden Bevölkerung wuchs dennoch laut Gronewold stetig: „Über die Hälfte der männlichen Fehntjer fuhr damals zur See.“ Neben Stürmen und weiteren Gefahren auf See kosteten auch Epidemien und Krankheiten viele Menschenleben. Im Jahr 1872 dokumentierten zwei per Flaschenpost über Bord geworfene Briefe das tragische Schicksal der Besatzung der „Hinrich“: In einer ersten Flaschenpost von Kapitän Harm Bruns habe es geheißen: „Schiff und Mannschaft in großer Gefahr.“ Nach dem Verlassen des Hafens von Newcastle geriet das Schiff in einem Orkan. Es hatte dort Steinkohle geladen. In einem zweiten Brief verabschiedet sich Steuermann Bruno Hedemann nach Erklärungen zum Unglück von seinen Lieben: „Wir taten, was wir konnten, um das Schiff über Wasser zu halten. Allein das Schiff war leckgeschlagen.“ Und weiter: „Die eine Stunde, die wir wohl noch haben, verbringen wir mit Beten und Singen.“

Mehr als 260 Schüler waren hier zeitgleich angemeldet

Patente von Seefahrtschulen konnten Unglücke wie diese zwar nicht gänzlich verhindern, doch sie gaben den Abenteurern ein gutes Rüstzeug für ihren Reisen auf den Weltmeeren. Ein Besuch einer Schule war zunächst nicht Pflicht. Doch Reeder bevorzugten Schiffsführer mit Erfahrungen und Zeugnissen. Der Unterricht fand vor allem in den Wintermonaten statt, berichtet Rogge. Denn da ruhte die Seefahrt meist. Wie der 70-Jährige herausfand, zahlten die Schüler im Jahr 1879 ein Schulgeld in Höhe von 36 Euro für einen neunmonatigen Lehrgang. Auf den ersten Jahrgang von gerade einmal 25 Schülern folgten größere Klassen: 1875 seien mehr als 260 Schüler in Timmel registriert gewesen.

Der schwere Anker im Innenhof des früheren Schulgeländes gibt deutliche Hinweise auf die Verbindung zur Seefahrt. Dieter Rogge wohnt selbst in der Nachbarschaft und erzählt zuweilen Interessierten etwas zur Geschichte des Hauses. Foto: Ortgies
Der schwere Anker im Innenhof des früheren Schulgeländes gibt deutliche Hinweise auf die Verbindung zur Seefahrt. Dieter Rogge wohnt selbst in der Nachbarschaft und erzählt zuweilen Interessierten etwas zur Geschichte des Hauses. Foto: Ortgies

Interessant sei für die Timmeler auch die Unterbringung der Schüler gewesen, weiß der frühere Polizeibeamte. Zahlreiche Familien verdienten sich offenbar ein paar Mark dazu, indem sie Schüler für die Dauer ihres Lehrgangs bei sich aufnahmen. Zunächst gab es an der Seefahrtschule die Patente für die Große und ab 1870 auch für die Kleine Fahrt. Auch Steuermannspatente konnten hier erworben werden. 1917 stellte die Schule dann jedoch ihren Betrieb ein. Das imposante Haus befand sich zunächst weiterhin im Besitz der Bezirksregierung Weser-Ems. Im Laufe der Jahre hatte die Immobilie einige Verwendungen: Sie war Notherberge für Wanderer, Jugendherberge und auch Lager für etwa 30 Kriegsgefangene. Die Franzosen und Belgier arbeiteten tagsüber beispielsweise bei Timmeler Bauern, wie Rogge erfuhr.

Teestube war ein beliebter Treffpunkt

Im Jahr 1985 kaufte Heiner Tergau das Objekt und ließ es sanieren. Dabei legte er Wert auf originalgetreue Details in der Architektur, die Interessierten noch heute direkt ins Auge fallen. Einen Teil des Erdgeschosses vermietete er der Gemeinde. Hier betrieb Brunhilde Weers bis in die frühen 2000er Jahre insgesamt 19 Jahre lang die Teestube. Zunächst zusammen mit Johanne Flessner, später mit deren Schwester Margret Köllmann. Noch heute kommt sie ins Schwärmen, wenn sie auf die historischen Details der Teestube angesprochen wird: „Das war sehr, sehr, sehr schön.“ Das Ambiente wussten auch die Gäste zu schätzen: „Die Leute, die reinkamen, fanden es immer ganz toll.“

Etwa 20 bis 30 Personen, überschlägt sie, fanden in diesem Teil der Alten Seefahrtschule gemütlich Platz, zu dem auch ein früherer Unterrichtsraum gehört. Dort habe es zudem wechselnde Ausstellungen gegeben, sodass die Gäste immer wieder etwas Neues entdecken konnten. Oft kamen Gruppen: Radfahrer, Wanderer, die hiesigen Landfrauen. Während der Tourismussaison war immer einiges los. Nachmittags kam stets hausgemachter Kuchen zum Tee auf den Tisch. „Wir waren bekannt durch unseren Kuchen“, erinnert sich Weers. Ein Backwerk erfreute sich dabei besonders großer Beliebtheit: „Wir haben 1000 Apfelkuchen gebacken.“

Als Nächstes geht es um einen aus heutiger Sicht wohl fragwürdigen Fortschritt in der Gemeinde Großefehn. Einige Kanäle sollten in den 1960er und 1970er Jahre aus dem Ortsbild verschwinden. Eine neue Folge der „Fehntjer Geschichte(n)“ widmet sich jener Art der Modernisierung – und wie sie verhindert wurde.

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