Serie „Unser Aurich“ In Kirchdorf wird Aurich zum Dorf

| | 12.10.2023 14:11 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Vor der ehemaligen Dorfschule, dem zu kleinen Treffpunkt des Ortsteils Kirchdorf: André (links) und Meike Tietz (rechts) von der Dorfgemeinschaft, Hans-Wilhelm Rolfs (vorne) und Joachim Fecht vom Boßelverein. Foto: Böning
Vor der ehemaligen Dorfschule, dem zu kleinen Treffpunkt des Ortsteils Kirchdorf: André (links) und Meike Tietz (rechts) von der Dorfgemeinschaft, Hans-Wilhelm Rolfs (vorne) und Joachim Fecht vom Boßelverein. Foto: Böning
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Früher wurde in Kirchdorf viel gefeiert. Jetzt wünscht sich die Dorfgemeinschaft wieder einen Ort, an dem alle zusammenkommen können. Über einen Teil Aurichs, an dem das Dorfleben Trumpf ist.

Kirchdorf - Auf dem Weg aus der Kernstadt Aurich über die Kirchdorfer Straße in Richtung Ihlow gibt es diesen Punkt, an dem auf der Brücke über dem Ems-Jade-Kanal das städtische Aurich aus- und das Dorfpanorama angeknipst wird. Genau an dieser Grenze beginnt der Ortsteil Kirchdorf. Direkt dahinter wirtschaftet Junglandwirt Udo Haßbargen inmitten von Wallhecken, Weiden, Wiesen und Ackerflächen.

Kirchdorf

Einwohner: 1445

Größe: 4,77 Quadratkilometer

Ärzte: keine, aber zwei Physiotherapeuten und eine Fußpflegerin

Bildungseinrichtungen: Kindergarten mit Krippe „Kindervilla Pippilotta“

Nahversorgung: zwei Hofläden: Folkerts und Haßbargen

Kirchen: Pauluskirche

Sonstiges: Boßelverein „Nei hum“ Kirchdorf, Schützenverein „Germania“ Middelburg, Ballettschule Tanzakademie Ilse Lah, Wohnstätte Lüttje Dörp der Werkstätten für behinderte Menschen Aurich-Wittmund

„Ich sage es fast jedem, der bei uns vorbeikommt, weil ich es so faszinierend finde“, sagt Haßbargen: „Gleich hinter der nächsten Baumreihe ist die Innenstadt.“ Nach Kirchdorf ist der Betrieb erst im Jahr 2012 gezogen. Dort fand die Familie etwas, was sonst in der Landwirtschaft eher selten ist: ausreichend Platz. „Damals, mit 16 Jahren, war mir die Nähe zur Innenstadt eher unwichtig. Es war gut, dass wir hier Ackerflächen und alles andere nah beieinander haben und die Wege kurz sind“, sagt Haßbargen. Inzwischen wisse er die Nähe zur Stadt aber zu schätzen.

Einer von drei Spielplätzen im Ortsteil Kirchdorf. Sogar bei Regen, wie an diesem Tag, hat er seine Fans. Foto: Böning
Einer von drei Spielplätzen im Ortsteil Kirchdorf. Sogar bei Regen, wie an diesem Tag, hat er seine Fans. Foto: Böning

Die Dorfgemeinschaft ist lebendig

Passend zum Charakter hat sich Kirchdorf eine lebendige Dorfgemeinschaft erhalten. Auch wenn in Kirchdorf, wie in anderen Ortsteilen, nicht mehr ganz so viel gefeiert wird, wie noch zu Zeiten der legendären Moorfete oder des großen Schützenfestes des Schützenvereins „Germania“ Middelburg (Middelburg gehört wie Westerfeld und Kirchdorferfeld zu den Nebenorten Kirchdorfs) – ganz nehmen lassen möchte sich der 1445 Einwohner zählende Ortsteil das Feiern aber nicht.

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"Unser Aurich": In Kirchdorf gibt es ein Dreiländereck
11.10.2023

André und Meike Tietz sorgen dafür, dass die Kirchdorfer wenigstens einmal im Jahr zusammenkommen. „Jemand muss ja den Anstoß geben“, sagt André Tietz, der auch im Boßelverein „Nei hum“ Kirchdorf aktiv ist. Probleme, Helfer zu finden, hätten die beiden nicht. „Man muss hier niemanden bitten, das ergibt sich meist ganz von selbst“, sagt Tietz. Gefeiert wird traditionell am 1. Mai. „Wir klappern vorher alle Häuser ab, sammeln für das Fest und laden alle ein“, erklärt Meike Tietz.

Udo Haßbargen ist mit dem elterlichen Hof im Jahr 2012 nach Kirchdorf gezogen. Hier gibt es viel Platz und die Weiden und Felder liegen nah am Stall. Foto: Böning
Udo Haßbargen ist mit dem elterlichen Hof im Jahr 2012 nach Kirchdorf gezogen. Hier gibt es viel Platz und die Weiden und Felder liegen nah am Stall. Foto: Böning

Der Traum vom Ortsteil-Treffpunkt

Gefeiert wird beim Vereinsheim der Boßler – der ehemaligen Dorfschule, in der auch der Kindergarten „Kindervilla Pippilotta“ untergebracht ist. Der Wermutstropfen an diesem Ort direkt an der Kirchdorfer Straße: „Da inzwischen die Nebenorte keine eigenen Feste mehr haben und bei uns mitfeiern, wird es hier ganz schön eng“, sagt André Tietz. Deshalb steht auf der Wunschliste der Dorfgemeinschaft ein gemeinsamer Treffpunkt für ganz Kirchdorf, der allen Platz bietet. „Ein Dorfgemeinschaftshaus wäre schön. Ein Platz, wo alle zusammenkommen können.“

Am Kirchdorfer Moor hat sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Andreas Bürsten ein Produktionsbetrieb angesiedelt. Foto: Böning
Am Kirchdorfer Moor hat sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Andreas Bürsten ein Produktionsbetrieb angesiedelt. Foto: Böning

Nach der Pandemie hat Kirchdorf in diesem Jahr das erste Mal wieder gemeinsam gefeiert. „Klasse ist, dass auch die Jugend gemerkt hat, wie schön eine lebendige Dorfgemeinschaft ist“, sagt André Tietz. Seitdem gebe es neben der Instagram-Seite „dorfgemeinschaft_kirchdorf“ auch die Seite „dorfjugend_kirchdorf“. Noch sind dort zwar keine Beiträge zu sehen, Tietz hofft jedoch, dass dieses zarte Pflänzchen bald Früchte trägt und die nächste Generation in den Startlöchern steht, um die Dorfgemeinschaft lebendig zu halten.

Den Jugendlichen fehlt ein Treffpunkt

„Gerade für Jugendliche fehlt in Kirchdorf ein Treffpunkt. Wenn sie zu alt für einen unserer drei Spielplätze sind, gibt es hier nichts für sie“, gibt Tietz zu bedenken. Wenn er einen Wunsch freihätte, würde er einen Bolzplatz bauen, mit Basketballkorb. Für die Freizeitgestaltung nach Aurich zu fahren sei keine Alternative, auch wenn die Innenstadt selbst mit dem Fahrrad oder zu Fuß schnell erreichbar sei, denn es gehe schließlich auch darum, die Dorfgemeinschaft lebendig zu halten.

Das Denkmal, gleich rechts hinter dem Ortseingang von der Kernstadt aus über die Kirchdorfer Straße, erinnert an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Foto: Böning
Das Denkmal, gleich rechts hinter dem Ortseingang von der Kernstadt aus über die Kirchdorfer Straße, erinnert an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Foto: Böning

Früher habe es mehr Anlässe gegeben, zusammenzukommen, sagt Joachim Fecht, zweiter Vorsitzender des Boßelvereins. „Es gab hier in Kirchdorf zwei Gaststätten“, erinnert er. Seit seinem zweiten Lebensjahr lebt Fecht in Kirchdorf, ist selbst noch in die alte Dorfschule gegangen. Sein Schwiegersohn André Tietz sagt über ihn: „Er kennt in Kirchdorf alles und jeden.“ Vor allem erinnert sich Fecht noch an die Feste. Das riesige Schützenfest zum Beispiel oder an die Zeit, in der damals die Dorfjugend auf die Idee kam, eine Moorfete zu veranstalten. „Die wurde immer größer, Fury in the Slaughterhouse waren da und zu Torfrock haben wir hier auf einer Weide mit sechseinhalbtausend Menschen gefeiert.“ Das war im Jahr 2001. Die Moorfete gibt es seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Seitdem ist es merklich ruhiger geworden.

Produktion im Nirgendwo

Trotz der vergleichsweise langen Grenze zur Kernstadt ist Kirchdorf einer der acht angrenzenden Ortsteile, der seinen ländlichen Charakter am längsten bewahrt hat. Zwar ist die Bevölkerung durch neue Siedlungen und Neubaugebiete seit den 60er Jahren mit damals etwa 800 Einwohnern ständig gewachsen, aber längst nicht so viel wie die Nachbarn Haxtum oder Popens. Kirchdorf prägen vor allem Dorfstraßen und Einfamilienhäuser mit viel Grün dazwischen. Dass sich mitten im Nirgendwo mit dem Bürstenhersteller Andreas ein Produktionsunternehmen angesiedelt hat, ist eher eine Kuriosität.

„Mein Großvater hat das Unternehmen direkt nach dem Krieg in der Nähe des Caro gegründet“, sagt Michael Andreas. Nach kurzer Zeit sei die Bürstenfabrik aber wegen des Flächenbedarfs zur Holzlagerung räumlich dort an ihre Grenzen gestoßen. „Damals wurden uns die Flächen in Kirchdorf angeboten“, so Andreas. Erst später entstand zwei Kilometer entfernt jenseits der Bundesstraße 72 das Gewerbegebiet an der Raiffeisenstraße. Andreas Bürsten ist in Kirchdorf geblieben. „Wir haben hier alles, was wir brauchen“, heißt es aus dem Unternehmen. Von dem Gewerbegebiet jenseits der B  72 wird gemunkelt, dass zumindest die Mode- und Möbelhäuser des Unternehmens Rudnick noch zu Kirchdorf zählen.

Der Ortsteil hat übrigens eine lange Tradition und wurde schon 1599 als „Kerckdorp“ urkundlich erfasst. Die heutige Schreibweise ist seit 1645 belegt. Zu seinem Namen kam Kirchdorf – wie der Name schon sagt – als Kirchenstandort. Im Jahr 1967 wurde sogar die eigenständige lutherische Kirchengemeinde Aurich-Kirchdorf gegründet. Die alte Kirche ist allerdings nicht erhalten, heute feiern die evangelisch reformierten Kirchdorfer in der modernen Pauluskirche ihre Gottesdienste. Ebenfalls eine lange Tradition hat übrigens der Boßelverein. In fünf Jahren wird er 100 Jahre alt. Wenn das nicht ein Grund ist, wieder groß zu feiern.

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