Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Reich durch Schmuggel – Erben freuen sich

| | 21.10.2023 17:07 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Lümka Gerdes bewies bei ihrem letzten Willen Weitsicht: Sie gab auch denen, die es am nötigsten hatten. Am Ende verkalkulierte sie sich jedoch. Symbolfoto: Pixabay
Lümka Gerdes bewies bei ihrem letzten Willen Weitsicht: Sie gab auch denen, die es am nötigsten hatten. Am Ende verkalkulierte sie sich jedoch. Symbolfoto: Pixabay
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Lümka Gerdes war nach dem Tod ihres Vaters 1863 zu einem gewaltigen Vermögen gekommen. Der Vater hatte mit Schmuggel gut verdient. Ohne direkte Erben beschloss sie, das Geld großzügig zu verteilen.

Großefehn - Das Testament, mit dem Lümka Gerdes nach ihrem Tod im Jahr 1891 ihren Nachlass regelte, hatte es in sich: Die vermögende Frau hatte sich ein ausgeklügeltes System überlegt, das von Weitsicht zeugte – und mit dem sie neben der Kirchengemeinde auch ihre drei Nachbarsjungen sowie Witwen und Waisen mit Summen ausstattete, von denen die sonst nur hätten träumen können. Mal direkt nach ihrem Tode, dann ein Jahr danach und oft nur die Zinsen – das Kapital ihres letzten Willens sollte gar erst 100 Jahre nach ihrem Ableben verteilt werden. 1991 wurde der aufgrund zweier Inflationen eher klägliche Rest verteilt. „Sie wollte, dass das Geld möglichst vielen zugute kommt“, sagt Kerstin Buss. Die Leiterin des Fehnmuseums „Eiland“ in Westgroßefehn hat mit Friedrich Kurzak, ihrem Vetter in Timmel, das Testament der Kapitänstochter transkribiert und sagt: „Ich finde, sie hatte Großes im Sinn.“

Was und warum

Darum geht es: Lümka Gerdes starb im Mai 1891. Sie hinterließ ein ausgeklügeltes Testament und bedachte zahlreiche Fehntjer Institutionen. Darüber hinaus bedachte sie ihre Dienstmagd, den Nachbarsjungen sowie Witwen und Waisen.

Vor allem interessant für: Fehntjer und regionalgeschichtlich Begeisterte

Deshalb berichten wir: Im Rahmen der Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ wirft die Redaktion Schlaglichter auf Besonderheiten in der Geschichte Großefehns. Es sind Ereignisse, die die 14 Ortschaften und die in ihnen lebenden Menschen zu dem gemacht haben, was sie heute sind.

Die Autorin erreichen Sie unter: s.ullrich@zgo.de

Lümka Christina Gerdes wurde 1818 als Tochter des Altschiffers Hinrich Gerdes aus Neuefehn und dessen Frau Antje Loets aus Westgroßefehn geboren. Gerdes hatte, anders als die späteren Seeleute vom Fehn, keine Navigationsschule besucht. Die Schule in Timmel wurde erst 1846 gegründet. Das Paar bekam zwei Töchter. Die Erstgeborene starb 1816 nur kurz nach ihrer Geburt. Lümka Gerdes wuchs als Einzelkind auf. Hinrich Gerdes machte auf hoher See ein Vermögen. Seine Kuff „Verwachting“ („Hoffnung“) war für damalige Zwecke vergleichsweise groß und gehörte einer Partenreederei, an der Gerdes beteiligt war. Während der Kontinentalsperre machte Gerdes das große Geld mit Schmuggel. Im Jahr 1806 hatte Napoleon Wirtschafts- und Handelsblockaden gegen England verhängt. Gerdes benutzte gefälschte Papiere und fuhr unter verschiedenen Flaggen, berichtet Buss.

Kapitänstochter mit besonderem Bezug zur Kirche in Timmel

Hinrich Gerdes war augenscheinlich ein so guter Schmuggler, dass er bereits 1826 als Geldgeber der Großefehngesellschaft in den Rechnungsbüchern erwähnt wird. 2000 Gulden in Gold soll er verliehen haben. Benötigt wurde die Summe zum Bau einer zweiten Wassermühle und der dritten Schleuse. Ab 1830 fuhr er nicht mehr zur See: Er ließ sich ein stattliches Haus in Westgroßefehn bauen und setzte sich dort mit seiner kleinen Familie zur Ruhe. Er ließ das Kapital für sich arbeiten, war von 1840 bis 1861 Teilhaber der Großefehngesellschaft. Im Jahr 1870 starb der Kapitän. Seine Frau war da schon seit sieben Jahren tot.

An Bord der „Verwachting" machte Altkapitän Hinrich Gerdes ein Vermögen mit geschmuggelter Ware. Das Kapitänsbild hängt im Haus von Kerstin Buss, die auch das Testament seiner Tochter Lümka transkribierte. Foto: Ullrich
An Bord der „Verwachting" machte Altkapitän Hinrich Gerdes ein Vermögen mit geschmuggelter Ware. Das Kapitänsbild hängt im Haus von Kerstin Buss, die auch das Testament seiner Tochter Lümka transkribierte. Foto: Ullrich

Lümka Gerdes wurde durch den Tod ihres Vaters zur alleinigen Erbin eines aus heutiger Sicht ordentlichen Batzen Geldes. Die genaue Summe ist nicht bekannt. Gerdes war 52 Jahre alt, ledig und „in Folge einer misslungenen Augenoperation“ erblindet, wie es in dem Testament heißt. Die Kapitänstochter trat vor allem an einem speziellen Wochentag in Erscheinung, so Buss. „Sonntags fuhr das Fräulein Gerdes immer hübsch angezogen mit der Kutsche zur Kirche.“ Auf dem Friedhof an der Südseite der Petrus-und-Paulus-Kirche in Timmel wurde sie nach ihrem Tod 1891 neben ihren Eltern beigesetzt. Ihre Verbundenheit zum Gotteshaus ist noch heute sichtbar, in Gestalt eines prachtvollen Altars, den sie 1884 stiftete.

Erbe wurde 100 Jahre lang verwaltet

Kurz nach dem Tod von Lümka Gerdes im Mai 1891 eröffnete das Auricher Amtsgericht ihr Testament. In dem hatte die Westgroßefehntjerin in einer ersten Fassung 1870 samt Ergänzung 1880 eine ganze Reihe von Personen aus ihrem familiären Umfeld genannt, die erben sollten: 17 Stämme, von denen die testamentarisch genannte Person ebenso wie ihre Erben über insgesamt 100 Jahre hinweg bedacht werden sollten – nicht aber, wenn diese nach Amerika ausgewandert waren.

Kerstin Buss hat in ihrem Haus eine umfangreiche Sammlung alter Schriften, in denen sie zu Recherchezwecken liest. Foto: Ullrich
Kerstin Buss hat in ihrem Haus eine umfangreiche Sammlung alter Schriften, in denen sie zu Recherchezwecken liest. Foto: Ullrich

Doch das war erst der Anfang: Gerdes hatte ganz bestimmte Vorstellungen davon, was mit ihrem Geld passieren sollte. Sie legte fest, dass ihr Vermögen für zunächst 20 Jahre und dann für weitere 80 Jahre verwaltet werde. Das Geld, das ausgezahlt wurde, sollte durch kluge Kapitalanlage wieder aufgefüllt werden. Die Kapitänstochter hatte offenbar eine Art Stiftung im Sinn: Über Jahrzehnte hinweg sollten nur die Kapitalerträge, die ihr Vermögen einspielte, an die Nachfahren der ursprünglichen Erben gehen – das eigentliche Vermögen aber erst nach 100 Jahren ausgezahlt werden.

Gerdes gab denen, die es brauchten

Darüber hinaus bedachte die weitsichtige Frau Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld, die es vermutlich gut gebrauchen konnten. Je „einhundert Reichsthaler Gold“ erhielten beispielsweise ihre Dienstmagd, drei Nachbarssöhne, ein Weber und ein Zimmermann in der Nachbarschaft ein Jahr nach ihrem Tod. Gerdes erwies sich als generöse Wohltäterin: Die Armenverwaltung, die Kirchengemeinde Mittegroßefehn und die Gemeinde Ostgroßefehn profitierten vom ihrem Ableben. Letztere allerdings nur beim Bau einer Kirche. Zahlreiche weitere Institutionen konnten sich über Geld freuen: Die „Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder zu Großefehn“, das Armenhaus und auch die Witwen und Waisen, die nicht in vergleichbaren Heimen lebten, bekamen einen Anteil.

Im Jahr 2020 wurde an der Timmeler Kirche die Grabsteine der Familie Gerdes wiederentdeckt. Der damalige Konfirmand Maurice Külpmann unterstützte Diakon Oltmann Buhr bei der Reinigung der mit Moos bedeckten Steinplatten. Foto: Archiv/Buhr
Im Jahr 2020 wurde an der Timmeler Kirche die Grabsteine der Familie Gerdes wiederentdeckt. Der damalige Konfirmand Maurice Külpmann unterstützte Diakon Oltmann Buhr bei der Reinigung der mit Moos bedeckten Steinplatten. Foto: Archiv/Buhr

Den mit Abstand größten Batzen allerdings erhielt die Kirchengemeinde Timmel. Und das aus gutem Grunde: Gerdes knüpfte die Übergabe des Geldes an eine Bedingung. Sie sagte der Gemeinde „3000 Reichsthaler Courant“ zu – wenn die ihre und die Grabstätte ihrer Eltern „auf dem Kirchhofe“ pflege. Ob das Geld je ausgezahlt wurde, ist Buss zufolge unklar. „Das ist nicht zu finden.“ Sie machte sich gemeinsam mit Diakon Oltmann Buhr auf Spurensuche: „Wir haben vor allem die Grabsteine gesucht.“ Buhr wusste damals nichts von der Verpflichtung, die seine Gemeinde möglicherweise eingegangen war. „Direkt an der Timmeler Kirche fanden wir drei Grabsteine“, erinnert er sich. Sie waren mit Moos bedeckt. Buhr nahm sich der Sache an. Im Herbst 2020 begeisterte er einen seiner damaligen Konfirmanden, Maurice Külpmann, für einen Arbeitseinsatz. Gemeinsam säuberten sie die Grabsteine von Kapitän Gerdes sowie dessen Frau und Tochter. Für Kerstin Buss war Lümka Gerdes eine außergewöhnliche Fehntjerin mit Weitsicht: „Sie hat überall Gutes getan mit dem Geld“, stellt sie anerkennend fest. „Ich finde, sie hatte Großes im Sinn.“ Aber es gebe auch eine andere Lesart: „Manche glauben, sie mochte ihre Verwandtschaft nicht.“

Weiter geht es mit einer Zeitreise in die wilde Disco-Ära. Was Großefehn da alles zu bieten hatte, erzählt eine weitere Folge „Fehntjer Geschichte(n)“.

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