Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ 1717 – als die Weihnachtsflut mit brachialer Gewalt wütete
Die Weihnachtsflut war ein verheerendes Unglück, das mehr als 10.000 Menschenleben forderte. Die Fehntjer traf es am 25. Dezember 1717 mitten im Weihnachtsgottesdienst. Aus Timmel eilten sie heim.
Großefehn - Die Weihnachtsflut aus dem Jahr 1717 gilt auch mehr als 300 Jahre danach als eine der verheerendsten Katastrophen, die jemals den Landstrich an der Nordsee heimgesucht haben. Sie wütete direkt am Meer – und landeinwärts bis nach Großefehn. Sie hinterließ Zerstörung, Verzweiflung, Tod. Ihre Auswirkungen waren noch über Jahre und Jahrzehnte hinweg allgegenwärtig. Die Auswirkungen auf die noch junge Siedlung rechts und links von Kanal und Wieke waren heftig: Häuser wurden zerstört, Nutztiere von den Fluten mitgerissen. Überall von den Niederlanden bis nach Dänemark fanden Menschen noch in dieser Nacht und in den darauffolgenden Wochen den Tod. Die Anzahl der gezählten Opfer variiert. Es ist von bis zu 12.008 Toten auszugehen, 2787 davon in Ostfriesland.
Sturmfluten gab es seither viele, und auch davor sind zahlreiche Fälle dokumentiert. Die Weihnachtsflut nimmt in der Geschichtsschreibung jedoch einen besonderen Stellenwert ein. Sie ist bis heute fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar und schrecklich gleichermaßen: Diese Flut kam in ihrer Wucht unerwartet. Sie traf in einer Zeit auf das Land, in der Mensch, Tier, und Küstenschutz bereits geschwächt waren. Sie traf die gesamte Küstenlinie, während Sturmfluten sonst meist eher regionale Ereignisse sind. Was aber vielleicht die größte Rolle spielt, ist der Zeitpunkt der Tragödie: „Mitten in der finsteren Nacht kam die Noth“, schrieb der Chronist Friedrich Ahrends. „Zwischen ein und zwei Uhr nachts erhob sich der Sturm aus Nordwesten mit ungeheurer Wuth und plötzlich schwoll die See auf zu nie erhörter Höhe“, führt er in seiner 1833 erschienenen Veröffentlichung „Physische Geschichte der Nordsee-Küste“ aus.
Schreckensnachricht im Weihnachtsgottesdienst
Einen weiteren wunden Punkt hielt Christian Hekelius, Augenzeuge und Pastor in Resterhafe, später fest. In der Zeit, in der die gottesfürchtigen Bewohner Ostfrieslands das frohe Fest der Geburt Jesu Christi hätten feiern wollen, „gab es nur Not und Wehklagen“. In Timmel hatten sich angesichts des Unwetters – es hatte im Vorfeld der Naturkatastrophe den Aufzeichnungen zufolge über Tage hinweg schwere Sturmböen, Regenschauer und Hagel gegeben – die Gläubigen am 25. Dezember 1717 schon früh zu einem Weihnachtsgottesdienst eingefunden. „Voll besetzt ist die Kirche“, schreibt der Ortschronist Heinrich Tebbenhoff mit Verweis auf das Timmeler Kirchenbuch. Der Pastor habe das Weihnachtsevangelium gepredigt, als es geheißen habe: „Das Meer ist hereingebrochen, die Flut ist schon überall!“
Der Gottesdienst fand demnach ein abruptes Ende. Die Menschen eilten heim und sahen erste Ausmaße dessen, was die Wassermassen angerichtet hatten: „All die Meeden, all das flache Weideland, alle tiefer gelegenen Felder waren von den Wasserfluten bedeckt; all die fleißige Siedlerarbeit war vernichtet, und die Wogen brüllten schon gegen die Häuser und Hütten“, heißt es. „Bis nach Großefehn drangen die Meereswogen vor, liegt doch das Land bei Westgroßefehn an der Kanalmündung 0,6 Meter unter Normalnull.“ Einige Fehntjer verloren Haus und Hof. Tebbenhoff schreibt über Jürgen Frerichs, der nach dem Gottesdienst feststellen musste, dass die Wassermassen seine Wohnwarft erreicht und „sein Haus zu einer Trümmerstätte gemacht“ hatten. Frerichs ließ sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen: 1722 begann er an gleicher Stelle mit dem Wiederaufbau. Dafür habe er unter anderem Baumaterial verwendet, das die Flut angetrieben hatte. Eine durchaus übliche Methode, denn Holz und andere Baumaterialien waren knapp.
Ganze Reihe von Sturmfluten um 1717
Die Ostfriesische Landschaft hat 2017 eine große Ausstellung zur Weihnachtsflut erstellt. Die zeigt auf 26 Tafeln, wie weit die Sturmflut 1717 ins Binnenland vordrang und welche Folgen sie hatte. Sie macht deutlich, dass die Flut längst nicht der einzige Schicksalsschlag um 1717 war. Im Gegenteil: Die Historiker haben eine ganze Reihe von schweren Naturereignissen dokumentiert. Das zeigt, wie beschwerlich, entbehrungsreich und gefährlich das Leben auf dem Fehn und darüber hinaus vor und nach der Weihnachtsflut 1717 war. So hatte im Jahr 1715 bereits eine Rinderseuche 60.000 Rinder getötet. Im Jahr darauf suchten erst Larven, dann Mäuse die Felder heim. Die wirtschaftliche Lage war mehr als angespannt.
Auch die Sicherheit der Küstenbauwerke war fragil: Dokumentiert sind Sturmfluten in den Jahren 1703, 1706 sowie 1714 und 1715. Es ist zu vermuten, dass es weitere gab. Entlang der gesamten Nordseeküste seien die Deiche aufgrund der zurückliegenden Angriffe der See in schlechtem Zustand gewesen. Das wurde Küstenbewohnern in der Nacht zum 25. Dezember 1717 zum Verhängnis. Die Menschen und das Land erholten sich auch deshalb nur langsam von der Naturkatastrophe, weil sie schon zuvor gezeichnet waren. „Man sehe nichts als Jammer und Elend, wo man nur seine Augen hinwendete“, beklagte Hekelius.
Mensch und Tier in schlechtem Zustand
Im Jahr 1719 fand mit der „Kopf-Schatzung“ eine Art Volkszählung statt. Ziel war es, alle steuerpflichtigen Bürger ab einem Alter von zwölf Jahren zu erfassen. Erhard Schulte hat die Listen zusammengefasst, in denen auch die Weihnachtsflut 1717 immer wieder nachhallt. Herausgegeben wurden sie von der Upstalsboom-Gesellschaft Aurich. Aus der Vogtei Timmel beispielsweise wird über viel Armut berichtet. Der Chronist Tileman Dothias Wiarda schildert Menschen, die teilweise kaum ihre Familien ernähren konnten. Er schreibt von Häusern, „noch offen und ruiniret“. Darüber hinaus sei das Vieh in einem schlechten Zustand. Auf den Länderei wuchs aufgrund der Salzablagerungen des Meerwassers nichts oder nur wenig.
Über die Höhe der Sachschäden nach der Flut gibt es keine Schätzungen. „Unbeschreiblich waren die materiellen Schäden“, schreibt Manfred Jakubowski-Tiessen in der „Kopf-Schatzung 1719“ einleitend. Er geht von 922 zerstörten und 1600 stark beschädigten Häusern allein in Ostfriesland und dem Harlingerland aus. Fast 2200 Pferde und 2700 Schafe, dazu mehr als 1000 Schweine und 9400 Rinder kamen demnach in den Fluten ums Leben. Tiere, die ein Teil der Lebensgrundlage der Menschen waren, gab es kaum noch. Ernten waren vernichtet, das Trinkwasser versalzen. Die Folge waren Hunger und Tod. Noch Wochen und Monate nach der Flut starben Menschen an deren Folgen. Doch damit nicht genug: Im Februar 1718 folgte eine weitere schwere Sturmflut. Sie hatte leichtes Spiel, denn die Deiche waren noch offen. Ein weiterer Rückschlag folgte am Jahreswechsel 1720/21. Die Neujahrsflut zerstörte vieles von dem erneut, was teilweise wiederaufgebaut worden war.
Johann Heinrich Leiner – ein Mann, der Spuren hinterließ
Das Rätsel um die fehlende Kirchturm-Uhr von Mittegroßefehn
Großefehn – wo Frauen schon immer ihren Mann standen
Wie ein Zehnjähriger erleuchtet und voller Freude starb
War ein Graf Seefahrtschüler in Timmel?