Gedenken in Wittmund Von Nazis ermordet – „Stolpersteine“ erinnern an Familie Löwenstein

Manfred Hochmann
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Von Manfred Hochmann
| 29.02.2024 19:33 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Bildhauer Günter Demnig und Susanne Altmann-Rommel bei der Verlegung der Stolpersteine. Foto: Hochmann
Bildhauer Günter Demnig und Susanne Altmann-Rommel bei der Verlegung der Stolpersteine. Foto: Hochmann
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Neu verlegte Stolpersteine in Wittmund erinnern an das Schicksal der jüdischen Familie Löwenstein. Für Susanne Altmann-Rommel ein besonderer Moment: Sie lebt heute im Haus der Ermordeten.

Wittmund - „Das Erinnern in diesem Haus, an seine Vorbesitzer, hat mich immer sehr belastet.“ Für Susanne Altmann-Rommel ist es ein besonderer Moment, auch eine persönliche Art von kleiner Wiedergutmachung, als vor ihrem Haus in der Klusforder Straße in Wittmund vier Stolpersteine zur Erinnerung an die jüdische Familie Löwenstein verlegt worden sind.

Denn als sie vor 27 Jahren nach Wittmund zog, war ihr die Vorgeschichte noch nicht bewusst. „Ich habe erst im Laufe der Jahre erfahren, wie das damals gelaufen ist, wie das Haus zu einem Spottpreis zwangsverkauft werden musste.“ Die Geschichte der Familie von Nathan Löwenstein, dem damaligen Hausbesitzer und letzten Synagogenvorsteher Wittmunds, hat sie seitdem nicht mehr losgelassen.

Nathan Löwenstein musste Haus zum Spottpreis verkaufen

Susanne Altmann-Rommel stammt aus Backnang (Baden-Württemberg) und hat später in Berlin studiert. Sie wohnte in der Nachbarschaft einer jüdischen Familie aus Krakau. „Wir hatten einen sehr engen Kontakt, da habe ich viel Gutes erfahren, viel gelernt und am jüdischen Leben in Berlin teilgenommen.“ In Berlin lernte sie damals auch Heinz Galinski kennen, den ersten Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Mit ihm diskutierte sie lebhaft über die richtige Erinnerungsarbeit.

Das Thema ließ Altmann-Rommel dann auch in Ostfriesland nicht mehr los, erst recht nicht, als sie erfuhr, in welchem Haus sie lebte. Ein würdiges Gedenken an die Vorbesitzer fehlte ihr. „Nathan Löwenstein hatte im Ersten Weltkrieg für Volk und Vaterland gekämpft, musste sein Haus unter den Nazis zu einem Spottpreis verkaufen und hatte danach immer noch 5000 Reichsmark Schulden“, bekam sie heraus.

50 Namen eingemeißelt

Schon früh versuchte sie deshalb, in irgendeiner Form die Erinnerung an die Familie Löwenstein wachzuhalten. „Wenn ich ein altes Haus kaufe, will ich auch seine Geschichte kennen.“ Durch den früheren Wittmunder Stadtarchivar Johannes Mennen, dessen Familie ebenfalls in dem Haus gewohnt hatte, erfuhr sie mehr. Der Heimatverein-Arbeitskreis „Erinnerung an die jüdischen Mitbürger in Wittmund“ hatte schon lange die Idee, mit Stolpersteinen vor den Häusern für die rund 50 früheren jüdischen Familien zu erinnern.

Insgesamt vier Stolpersteine wurden vor dem ehemaligen Haus der Familie Löwenstein verlegt. Foto: Hochmann
Insgesamt vier Stolpersteine wurden vor dem ehemaligen Haus der Familie Löwenstein verlegt. Foto: Hochmann

In Wittmund gibt es einen Gedenkstein am früheren Synagogenplatz, eine Gedenkstätte am Friedhof an der Auricher Straße und den jüdischen Friedhof an der Finkenburgstraße. Auch gibt es jährlich Gedenkveranstaltungen, mitgestaltet jeweils von Schülern der Kooperativen Gesamtschule (KGS) Alexander von Humboldt – dann werden immer die 50 Namen verlesen, die in dem Gedenkstein an der Auricher Straße eingemeißelt sind. „Diese Namen sind uns inzwischen vertraut, deswegen ist es gut, sie wieder in die Stadt zu holen, mitten ins Leben“, sagte Schulpastorin Christine Lammers, die ein Projekt über die früheren jüdischen Mitbürger an der KGS mitbetreut.

1942 nach Riga deportiert und ermordet

Die Recherchen der Schüler – sie waren in etlichen Archiven, besuchten die Synagoge in Groningen – und des Arbeitskreises ergaben, dass die Familie Löwenstein an der Mühlenstraße ein Haushaltswarengeschäft führte und in der Klusforder Straße 14 lebte. Eine der Töchter, Gretchen, gelang 1936 die Flucht. Die andere Tochter Ina starb 1940. Das Ehepaar Nathan und Anna Löwenstein wurde 1942 nach Riga deportiert, wo beide ermordet wurden.

„Es gibt aktuelle Entwicklungen in Deutschland, von denen ich nicht gedacht habe, dass ich sie noch erleben muss.“ Wilfried Heydegger, Sprecher des Arbeitskreises, verwies auf aktuelle antisemitische Entgleisungen. „Jüdisches Leben in Deutschland ist schwierig geworden“, sagte er. Arbeitskreis-Mitglied Dirk Gronewold zitierte die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi (91), die in einer Gedenkstunde des Bundestages sagte: „Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.“ Gronewold räumte ein, dass es in Wittmund lange gedauert habe, die Stolpersteine zu verlegen. „Aber wenn nicht jetzt, wann dann?“

Bedenken zur Aktion „Stolpersteine“

Der Arbeitskreis sei der Motor für die Aktion, aber die Schüler und Lehrer der KGS „die wesentlichen Initiatoren“. Die Schüler entwickelten über die App „Actionbound“ sogar einen virtuellen Stadtspaziergang „Das jüdische Wittmund“, gestalteten jetzt auch größtenteils das Programm vor der Verlegung der Stolpersteine mit. Bürgermeister Rolf Claußen sagte: „Die große Teilnehmerzahl heute macht mich stolz. Es reicht nicht aus, einmal im Jahr zum Gedenken zusammenzukommen. Die Stolpersteine sind ein Mahnmal, das uns jeden Tag erinnert.“

Für die Wittmunder war es zunächst nicht einfach, sich der Aktion „Stolpersteine“ anzuschließen. Denn die Jüdische Gemeinde Oldenburg, zu deren Einzugsbereich Wittmund gehört, hatte Bedenken; sie erinnert stattdessen in Oldenburg mit Wandtafeln und Stelen an die ehemaligen jüdischen Mitbürger, als Erinnerungszeichen auf Augenhöhe. Bei den Stolpersteinen könnte das Gedenken „mit Füßen getreten werden“.

„Sie verbeugen sich vor den Opfern“

Für den Stolperstein-Erfinder, den Bildhauer und Künstler Günter Demnig aus Alsfeld (Hessen), ist das weit hergeholt. „Die meisten Menschen laufen nicht einfach darüber hinweg, nein, sie verbeugen sich vor den Opfern“, sagte er im Gespräch mit unserer Zeitung. Er zitiert gerne einen Schüler, dessen Worte auch Bürgermeister Claußen aufgriff: Nach der Frage, ob man nicht über die Steine falle, antwortete er: „Man fällt nicht über die Stolpersteine, man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen.“

Für den Wittmunder Arbeitskreis war aufgrund der positiven Resonanz in anderen Städten dann irgendwann klar, dass sie sich der Aktion „Stolpersteine“ anschließen wird. Wittmunder Bürger übernahmen jeweils die Patenschaften für die Steine, beteiligen sich auch finanziell. „Wir mussten uns für die Verlegung der Steine keine Erlaubnis einholen, sondern konnten selbst über die Art des Gedenkens entscheiden“, sagt Wilfried Heydegger. Die jüdische Gemeinde Oldenburg sei zwar zuständig für die beiden Friedhöfe in Wittmund, in die weitere Art des Erinnerns habe sie sich aber nicht eingemischt.

Rund 105.000 Stolpersteine verlegt

Bisher hat Günter Demnig mit seinem Team rund 105.000 Stolpersteine verlegt – in Wittmund sind jetzt zehn hinzugekommen. Für die Familie Löwenstein; für Abraham Adolf Cohen und seine Frau Frieda Pinto (aus Jemgum), beide ermordet 1944 in Auschwitz; für das Ehepaar Isaak Joseph und Agnes Auguste Hess (geb. Mendelsohn) mit ihren Kindern Joseph und Caroline – die gesamte Familie wurde in den Vernichtungslagern Auschwitz oder Sibibor ermordet. Es sollen nicht die letzten Steine gewesen sein.

„Unsere Arbeit endet nicht hier“, sagte Wilfried Heydegger. Ab 2025 sollen weitere Stolpersteine – für die sich schon viele Paten im Voraus eingetragen haben – verlegt werden, voraussichtlich auch in Carolinensiel, wo ebenfalls viele jüdische Gemeindemitglieder lebten. Überdies soll es im kommenden Jahr eine Gedenkveranstaltung beim 50-jährigen Jubiläum der KGS geben. Denn über die jüngere Generation müsse man die Botschaft weitertragen. So wie es auch Susanne Altmann-Rommel getan hat: „Ich habe meine Kinder und deren Kinder immer daran erinnert, in welchem Haus sie leben.“

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