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Krimitage: Die dritte Kurzgeschichte in der OZ

Andrea Z. Rhein
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Von Andrea Z. Rhein
| 03.11.2017 06:48 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 11 Minuten
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Die OZ stellt in dieser Woche die drei Finaltexte für den Preis der zehnten Ostfriesischen Krimitage vor. Er wird am 10. November verliehen. Dieses Mal: „Fleu Herut!“ – eine Kurzgeschichte von Andrea Z. Rhein.

Raunächte, im wahrsten Sinne des Wortes. Seit Tagen schon Kahlfrost. Optimale Bedingungen.

Ich bin hundemüde nach gestern Nacht, aber in zwei Stunden geht’s los. Die Zeit für eine letzte Trainingseinheit muss sein. Draußen ist es eiskalt und noch stockdunkel. Ich stelle die Scheinwerfer auf. Sie beleuchten Bahn und Rampe, die Großvater vor Urzeiten hinter dem Haus angelegt hat. Die Schienen aber stammen von mir. Musste die Technik optimieren, nachdem mein Versuch im letzten Jahr fehlgeschlagen ist. Nur gut, dass der Kloot ins Leere ging und sonst niemanden getroffen hat.

Andrea Z. Rhein
Andrea Z. Rhein

War schon etwas peinlich. Ich, ein Bruns. Erbe einer der stolzesten Werferfamilien Ostfrieslands. Wenn andere Jungs gekickt haben, hab ich mit Großvater und Vater den Kloot geworfen. Alles habe ich von ihnen gelernt. Die ausgeklügelte Technik, die etwas dröge Theorie und natürlich die Geschichte. Besonders beeindruckt hat mich als Kind, dass wir Friesen die Kloote ursprünglich auf Feinde geschossen haben. Als Waffe. (...)

Ich drücke auf den Knopf. Der Wagen tuckert los und folgt den Schienen, die ich längs der Wurfstrecke angelegt habe. Die Puppe schwankt leicht hin und her, dann beruhigt sie sich. Ich laufe an, beschleunige, lasse den Arm kreisen und hopp – springe ich im rechten Moment ab. Schwung und Flugbahn: perfekt. Nur, mein Kloot trüllt nicht. Das soll er auch gar nicht. Mein Kloot findet sein Ziel. Sicher. Plastik splittert vom Kopf. Die Puppe kippt aus dem Wagen. Ich wiederhole die Übung einige Male und treffe jedes Mal auf den Punkt.

Ich muss mich hinter niemandem verstecken. Auch nicht hinter Hanno. Trotz seiner unmöglichen Figur ist er der beste Mann aus Augustfehn und wie ich Sprössling einer großen Schießerdynastie. Aber darum geht’s ja nicht.

Ich schalte die Scheinwerfer aus, räume Puppe und Wagen zurück in den Schuppen und bedecke die Schienen mit den Autoreifen. Man kann ja nie wissen.

Gestern Nachmittag, wie jedes Jahr an Silvester, haben die Oldenburger zum Lokalderby herausgefordert. Zur örtlichen Ausgabe des großen, legendären Duells Ostfriesland gegen Oldenburg. (...)

Hanno ist jedes Neujahr dabei. Zuverlässig kommt er angefahren mit seiner Ina und ihrem lächerlichen Handtaschenhündchen im Schlepp. Sie gesellt sich unter die Käkler und Mäkler und feuert ihren Hanno an. Der Köter kläfft dazu.

Mich hat sie nie angefeuert.

Ich gehe ins Haus und setze den Kessel auf. Im Kühlschrank sind noch ein paar gekochte Kartoffeln von vorgestern. Ansonsten ist er mal wieder erschreckend leer. Fleisch hatte ich schon seit Mitte des Monats keins mehr. Ich setze mich an den Tisch und schneide die Kartoffeln in Scheiben. Draußen ist es noch immer dunkel.

Wenn ich zurückkomme, wird es hier sein wie immer. Mein Heim. Mutter hat an diesem Herd gekocht, Großvater auf dieser Bank gesessen und mir das Schnitzen beigebracht, Vater mich unter dieser Tür vor Ina gewarnt. „Die gehört nicht auf den Hof“, hat er gesagt. „Ich bin Automechaniker, Vater. Den Hof mache ich nur nebenbei. Das macht man heutzutage so“, hab ich gesagt. Er hat gelacht. „Du wirst schon sehen“, hat er gesagt.

Der Kessel pfeift. Ich gieße das heiße Wasser in die Thermoskanne und setze die Kartoffeln auf den Herd. Vater hatte wie immer recht. Hätte ich nur auf ihn gehört. Aber nach der Schweinepest hat Ina mir gesagt, dass sie das Hofleben hasst. Nach der Maul- und Klauenseuche hat sie erklärt, dass sie Hanno liebt. Ausgerechnet einen Oldenburger. Und unseren Kreditberater! Ein bequemes Leben, ohne Dreck, Vieh und ölverschmierte Hände. Und mit Büchern! „Ein Haushalt ohne Buch, ich hätte es gleich wissen müssen!“, hat sie gesagt und ihre Koffer gepackt.

Aber ich beneide Hanno nicht. Ich bemitleide ihn. Frau hört mit „au“ auf, so hat Bjarne mal gesagt.

Die Kartoffeln knistern in der Pfanne. Ich streue Salz und Pfeffer drauf. Auf dem Hof hat sie von Anfang an nichts gemacht. Als wir uns kennen gelernt haben, hat sie noch in der Bäckerei gearbeitet, nach der Hochzeit aber sofort gekündigt. Wollte sich optimal auf unsere Kinder vorbereiten. Dabei konnte sie gar keine kriegen. Vielleicht wäre sonst alles anders gekommen?

Ich ziehe den Teebeutel aus der Kanne und schlage ein Ei über die Kartoffeln. Das richtige Frühstück für diesen Tag. Dann die Scheidung. Kein Ehevertrag! Die Hälfte meiner bescheidenen Rente dahin. Wie dumm ich war! (...)

Ich gebe die Kartoffeln auf einen Teller. Ihr heißer Dampf steigt mir ins Gesicht. Sie duften herrlich. Inas Spuren sind aus dem Haus beseitigt, bis zum letzten Haar, nichts mehr da. Und nach ihr hat keine Frau mehr meine Schwelle betreten. Kann ich mir nicht leisten. Landwirtschaft habe ich keine mehr. Seit einem halben Jahr bin ich Rentner. Ich hab Abels gefragt, ob ich nicht noch länger in der Werkstatt aushelfen könnte. „Nee, jetzt ist Schluss, Bruns. Ruhestand!“, sagt der. „Jetzt sind die Jüngeren dran. Genieß es!“ Pah, genießen. Wie denn? Dabei bräuchte ich ja gar nicht viel. Mein Haus, einen Teller Bratkartoffeln, ab und zu ein Steak und ein Bier, mal ins Kino. Einfach leben.

Draußen beginnt es zu dämmern. Ich wasche den Teller und die Bratpfanne ab, putze mir die Zähne, spucke auf den Kamm und ziehe ihn über mein Haar. Ich setze mir die Mütze auf. „Fleu herut.“ Unser Vereinsmotto zieht sich wie ein Regenbogen über meine Stirn und hallt wie ein Zauberspruch in meinem Kopf nach. Fliegen soll er, der Kloot.

Ich stecke meine Vereinsnadel an, packe die Kloote und die gefüllte Thermoskanne in die Sporttasche und schließe die Tür hinter mir. Wenn ich zurückkomme, wird alles anders sein.

Mit dem Rad fahre ich die Terheide entlang zum Jümmesee. Die frühe Sonne lässt die Zuckergussschicht auf Sträuchern und Gräsern glitzern. Abgestürzte Silvesterraketen staken hier und da aus dem Feld.

Die Vereinskollegen sind schon da. Die Oldenburger Herausforderer auch. Ich lege mein Rad auf die harte Graskruste.

„Wo ist Bjarne?“, frage ich Abels, der die Anlaufbahn ebnet.

„Im Einsatz“, sagt er, „Einbruch in Weener.“

„An Neujahr?“, frage ich. Dämliche Bemerkung, denke ich sofort.

Während ich mir die Turnschuhe fester schnüre, sehe ich mich um. Es sind vielleicht hundert Menschen auf dem Feld. Und da hinten ist sie. Wie immer erstklassig. Jünger geblieben als ihre 63. Durch Club-Urlaube und Tennis-Turniere. Ganz die feine Banker-Gattin. Hündchen in der Tasche, Daunenmantel, Fellschal, gefütterte Stiefeletten in Leopardenoptik. Alles teuer. Dazu wirkt sie glücklich und entspannt. Genau wie Hanno auch. Ich schaue weg und sehe doch alles. Wie sie mit alten und neuen Freunden scherzt. Wie sie immer wieder zu ihrem Liebsten sieht und mich mit dem Hintern nicht anguckt.

Ich prüfe meinen Kloot. Die Holzummantelung ist makellos glatt, auch an den Übergängen zur Bleifüllung.

Hanno kommt auf mich zu. Seine langen Arme schlenkern am Rumpf, als wären ihm die Muskeln flöten gegangen.

„Frohes Neues“, sagt er in einem Ton, der keine Antwort erwartet.

Ich nicke. Der Kloot liegt schwer in meiner Hand. Hanno klopft mir unbestimmt auf die Schulter und geht wieder. Ich widerstehe dem Drang, ihm die Kugel direkt hinterher zu werfen. (...)

Die Gegner legen mit ihrem besten Werfer vor. Hanno. Er rennt, dann rudert, schreit und springt er. Der Kloot fliegt und fliegt, getragen von den Rufen der Zuschauer. Er trüllt weit über das Feld. Eine beachtliche Leistung. Hanno reißt mit einem kurzen Siegesschrei die langen Arme hoch. (...)

„Nachricht von Bjarne?“, frage ich Abels, der auf sein Handy schaut.

„Hat länger gedauert in Weener. Der Einbrecher muss ein Stümper gewesen sein. An der zertrümmerten Tür gab es wohl viele Spuren zu sichern, hat Bjarne gemeint. Und geklaut hat der nichts als wertloses Zeug. Aber Bjarne konnte einen Kollegen dazunehmen. Ist grad losgefahren“, sagt Abels. „Sieht super aus, die Ina, was?“ Er stößt mir mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Wer wirft nach Uwe für uns?“, frage ich zur Tarnung, denn ich kenne die Antwort.

„Bjarne, glaub ich.“

Es eilt plötzlich. Ich gehe zum Obmann. Er ist einverstanden: Ich werfe für Bjarne, wenn der nicht rechtzeitig da ist.

Uwe hat überraschend gut geworfen. Wir führen, aber das spielt keine Rolle. (...)

Ich gehe an die Bahn, schließe die Augen. Ziehe die eiskalte Luft in meine Lungen, bis sie schmerzen. Die Trompete. Ina schaut zu mir, ich spüre es. Ich öffne die Augen und nicke ihr zu. In ihrem Gesicht regt sich nichts.

„Bruns, fleu herut!“, rufen meine Vereinskollegen.

Ich lege kurz die Hand an die Stirn. Fleu herut!

Ich atme aus und laufe an, beschleunige, schnell wie nie, den Blick auf mein Ziel gerichtet. Ich lasse den Arm kreisen, und hopp! Im richtigen Moment springe ich ab. Mein Kloot fliegt in perfekter Flugbahn. Holz und Blei. Die Mäkler maulen, die Käkler auch. Der Kloot wird nicht trüllen. Er findet sein Ziel. Sicher.

Ina sackt zusammen. Eine Schrecksekunde lang verstummt das Feld. Dann bellt der Hund und Wilma schreit spitz auf. Um mich strömt alles auf Ina zu wie auf ein schwarzes Loch. Auch ich werde mitgezogen.

Während ich die wenigen Meter überwinde, bricht etwas in mir auf. Was habe ich getan?, ruft eine innere Stimme. Ich nehme wahr, wie der Köter Inas Gesicht ableckt, Hanno sich über Ina beugt. Er ruft ihren Namen. Ich mache es ihm nach. Kopiere seinen Tonfall, seinen Schrecken. Was, wenn es nicht reicht, dämmert mir plötzlich. (...)

„Ina, steh auf“, bettelt Hanno. Seine Hände wandern planlos über ihren Daunenmantel.

Ich überlege, was ich tun muss, da fasst mir jemand auf die Schulter, schiebt mich beiseite. Eine Uniform. Bjarne. Auch er ruft ihren Namen. Fühlt ihren Puls.

Wilma schreit ins Telefon: „Ein Unfall! Wir brauchen einen Krankenwagen.“

Ich setze mich auf die kalte, schwarze Erde, schlage die Hände vors Gesicht, versuche zu weinen.

Ein Arm legt sich tröstend um mich. Abels.

„Bruns“, sagt er.

„Ich . . .“ Ich bleibe hinter meinen Händen versteckt. Bitte inständig: Gott, mach, dass es . . . Ich schlucke hart.

„Es tut mir leid“, sagt Abels.

Plötzlich werde ich umgerissen. Es ist Hanno. Er hat sich auf mich gestürzt.

„Du Arschloch“, schreit er. „Das war Absicht! Du Schwein!“ Er boxt auf mich ein. Ich wehre mich nicht. Die Schläge kommen gut.

Bjarne zieht Hanno fort, während Abels mich festhält.

„Der Scheißkerl. Er hat sie umgebracht!“

Hannos Schlenkerarme fliegen in meine Richtung.

„Quatsch, Hanno. Siehst du nicht, er ist völlig fertig“, sagt Bjarne. „Außerdem ist Ina nur bewusstlos. Das wird schon wieder.“

Ich breche an Abels Brust zusammen. Einen Moment lang überkommt mich Verzweiflung.

Der Hof liegt da, wie ich ihn verlassen habe, nichts hat sich verändert.

Ich gehe in den Schuppen und hole die Puppe, den Wagen und die Axt.

Ich streife die Turnschuhe ab und schlüpfe in die Pantoffeln. Ich trage Puppe und Axt in die Stube und fache den Kamin an. Verloren.

Im Regal steht der Ordner. Mein ganzes Leben in Papieren. Daneben das Buch. Scheiß-Buch.

In gehe in die Küche und setze mir Teewasser auf. Draußen ist es schon wieder dunkel geworden. Er war kurz, dieser erste und letzte Tag im neuen Jahr.

Ich trage den Tee in die Stube. Das Holz knistert, meine Wangen glühen. Als sie Ina auf die Trage gehoben haben, war sie schon wieder bei sich. Ein blauer Fleck an der Schläfe, wahrscheinlich Gehirnerschütterung, das ist alles.

Mit der Axt, mit der ich die alte Holztür in Weener in Nullkommanix zertrümmert habe, schlage ich der Puppe den Kopf ab, werfe ihn ins Feuer. Das Plastik schmilzt, wirft schwarze Blasen. Farbiger Rauch steigt aus dem Klumpen. Ich schlage auf den kopflosen Körper ein, hiebe so fest ich kann. Es kracht und splittert. Dann hole ich den Wagen, haue drauf, bis ich kraftlos zusammensinke. Morgen werde ich die Schienen abbauen. Ich werfe nach und nach alles ins Feuer. Auch das wertlose Zeug, das ich in Weener hab mitgehen lassen, um Bjarne möglichst lange fernzuhalten. Alles umsonst.

Während die Flammen lodern, beruhige ich mich etwas. Ich trinke einen Schluck Tee. Dann werfe ich das Buch in die Flammen. „Dim Mak – Die zwölf tödlichsten Körperpunkte.“ Alles Lüge. Sicher haben auch unsere Vorfahren keinen einzigen Feind erlegt.

Ich ziehe den Ordner aus dem Regal. Das Blatt habe ich mit einem Klebezettel markiert. Dabei kenne ich die Stelle auswendig. Hat eine Zeit gedauert, bis ich verstanden hab, was hinter dem unmöglich komplizierten Satz steckt. Ihr Rentenanrecht wird nicht gekürzt, wenn Ihr früherer Ehepartner gestorben ist und selbst höchstens 36 Monate Rente aus den im Versorgungsausgleich erworbenen Anrechten erhalten hat. . . Wenn Ihr früherer Ehepartner gestorben ist, wenn Ihr früherer Ehepartner gestorben ist. Hohl und leer klingt der Satz auf einmal. Ich klappe den Ordner zu. Ich brauche ja gar nicht viel. Ich will nur leben. In meinem Haus. Und ab und zu ein Steak.

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