Leer
Krimitage: Die zweite Kurzgeschichte in der OZ

Die OZ stellt in dieser Woche die drei Finaltexte für den Preis der zehnten Ostfriesischen Krimitage vor. Er wird am 10. November verliehen. Dieses Mal: „In die Wüste geschickt“ – eine Kurzgeschichte von Jutta Wilbertz.
Es ist vier Uhr nachmittags, als ich im Hotel einchecke und meinen Kram aufs Zimmer schleppe. Sieht nett hier aus. Ich kenne ja leider auch ganz andere Absteigen. Obwohl, auf dieser Tour kann ich mich bis jetzt nicht beklagen, immer saubere Duschen, leckeres Rührei zum Frühstück und nicht zu weiche Betten. Meine Agentur hat das ganz ordentlich organisiert, vier Wochen an der Küste und auf den Inseln, Auftritte, Krabbenbrötchen, Strandspaziergänge, Muscheln sammeln! Eigentlich ist das hier ein bisschen wie bezahlter Urlaub.
Ich liebe das Meer! Vielleicht, weil ich aus dem Bergischen stamme, da ist alles so eng, immer irgendein blöder Hügel im Weg, der die Sicht versperrt. Das mit dem Bergischen will mir übrigens keiner glauben. Ich bin schlank und hochbeinig, ganz und gar die kühle Blonde aus dem Norden. Hamburg, nicht Bergneustadt. Die Gage war jedenfalls insgesamt recht gut. Heute mache ich noch diese private Geburtstagsfeier hier in Norddeich, danach ist mein Konto endlich wieder schön im Plus und ich kann in Ruhe wegfahren, mein neues Programm vorbereiten, Provence oder so, jedenfalls nicht Italien, auf gar keinen Fall Italien.
Ich wuchte den Instrumentenrucksack aufs Bett und gehe ans Fenster, um das Meer zu sehen. Es ist nicht da. Nur eine graue, schlammige Matsche, soweit das Auge reicht. Aber das ist okay. Ich habe die Nordsee schon immer gemocht. Ehrlich ist sie, spröde, verspricht nichts, dabei konsequent in ihrer Wechselhaftigkeit – und wenn das Wasser zurückgewichen ist, findet man mitten im Schlamm die schönsten Reichtümer.
Das Mittelmeer dagegen, das einen so verführerisch blau anglitzert, Schätze und versunkene Welten verspricht, ist nur ein aufgeblasener Blender. Das merkt man schon beim Schnorcheln, alles leergejagt von den Italos mit ihren blöden Harpunen, man sieht höchstens eine verrostete Cola-Dose auf dem Grund, an der man sich dann auch noch den Fuß aufschlitzt. Das Mittelmeer ist genau wie die Männer. Genau wie Lorenzo, um es mal auf den Punkt zu bringen, aber an Lorenzo will ich jetzt nicht denken. Hab das Ganze viel zu lange mitgemacht, es war wirklich höchste Zeit, ihn in die Wüste zu schicken. Hoffe, dass er da bleibt. (...)
Letzten Endes hat sich mein Beruf ganz von selbst ergeben. Seit meinem sechsten Lebensjahr spiele ich Akkordeon, erst Schneewalzer und Polka, später dann Musette und Tango. Und ich singe gern, schon mit vierzehn habe ich – mich selbst begleitend und lauthals Edith Piaf schmetternd – ein ansehnliches Taschengeld auf Hochzeiten und Schützenfesten verdient. Während der Studienzeit – ich hab mal BWL studiert, ja, wirklich – war das ein willkommenes Zubrot und als ich keine Lust mehr auf diese langweiligen Köppe in der Fakultät hatte, habe ich mir kurzerhand eine Agentur gesucht, mich professionalisiert. (...)
Am liebsten mag man mich mondän, im Herrenanzug und Zylinder, unter der Anzugjacke eher luftig gekleidet, etwas schwarze Spitze oder so. Mysteriös, glamourös, verführerisch. Marlene gibt sich die Ehre. Und dann raune ich „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ oder, wie jetzt hier bei der Nordseetour, ein paar rauchige Shanties. Lili Marleen, die darf natürlich auch nicht fehlen. (...)
„Vor der Kaserne, vor dem großen Tor.“ Seit Ewigkeiten habe ich das im Repertoire, aber erst seit Lorenzo weiß ich, was das arme Mädel eigentlich mitgemacht hat … Lorenzo. Ach herrjeh. Den habe ich vor einigen Monaten in Bari kennengelernt. Und da ist es dann passiert. Die große Liebe! Als ich Lorenzo in seiner Uniform sah – ein echter Carabiniere –, da ist wohl irgendetwas mit mir durchgegangen. Wahrscheinlich habe ich einfach zu viele Marlene-Dietrich-Filme geguckt. Marokko, wo sie zum Schluss ihr Nachtclubleben aufgibt und dem Fremdenlegionär Gary Cooper in die Wüste folgt, barfuß, liebend, Abblende, The End.
Zugegeben, Lorenzo hat schon etwas von Gary Cooper. Für einen Italiener ungewöhnlich hochgewachsen, ein tragisch verschlossenes Gesicht, nur in seltenen Momenten offen und voller Leidenschaft. Und natürlich will Frau dann diejenige sein, die diesen Gesichtsausdruck hervorruft, die den einsamen Wolf erlöst. Idiotisch. Wie gesagt, ich habe ihn in die Wüste geschickt, da soll er bleiben und ich werde einen Teufel tun und doch noch hinterherlaufen. (...)
Abendstimmung an der Mole, Möwen kreischen, ich denke an Lili Marleen und muss fast lachen. Herrjeh, eigentlich war sie doch auch nur eine blöde Kuh. Genau wie ich. Dabei war es zunächst so romantisch mit Lorenzo! Rosen, kleine Restaurants, dann ins Hotel. Sein Geruch, sein Mund an meinem Ohr, wenn er „Amore mio“ flüsterte … ach, da schmolz ich einfach dahin. Gut, er hätte mir auch das Telefonbuch vorlesen können, mit dieser unglaublich männlichen, warmen Stimme und den klingenden Vokalen, weichen Konsonanten und dem rollenden „R“. Italienisch bringt mich einfach in Wallung, ich kann nichts dafür. (...)
Natürlich dauerte die ganze Sache viel zu lange, ich stand liebeskrank vor der Kaserne, vor dem großen Tor, hatte hausfrauliche Visionen von Lorenzo und einem Haufen Bambini und mir als Pasta kochender sexy Mamma am Herd … aber das ließ dann doch wieder nach, spätestens, als meine Agentur mailte und die neuen Termine durchgab. Und damit ging der Ärger los. Völlig naiv zeigte ich Lorenzo meine Pressephotos, auf die ich wirklich stolz bin: lässig-lasziv, in schwarzer Spitze, mit Akkordeon und High Heels. Seine Reaktion war – nun, heftig.
Ich packte sofort meine Sachen und konnte von Glück sagen, dass mein erster Job in Deutschland eine Studiosache war, das Veilchen brauchte mehrere Tage und viel Schminke, bis ich wieder passabel die Marlene geben konnte. Er stand kurze Zeit später vor meiner Tür in Frankfurt, völlig aufgelöst und voller Reue, es sei einfach mit ihm durchgegangen, weil er mich doch so liebe, „Sei mia – du gehört mir!“. Und dann hat er geweint. Das hat mich umgehauen, dass so ein echter, harter Kerl meinetwegen Tränen vergießt, da bin ich natürlich weich geworden … ich blöde Kuh. (...)
Das letzte Mal präsentierte er mir stolz die Schlüssel für eine Wohnung am Stadtrand. Er müsse zwar leider noch heute Abend auf einen spontanen, mehrtägigen Truppeneinsatz, aber ich könne doch schon mal in das Appartamento ziehen und anfangen, alles herzurichten. Denn in Zukunft würde ich dort leben, jederzeit bereit für ihn, wenn er Ausgang habe, und dann würden wir auch bald heiraten und Kinder machen.
„Du bleibst jetzt hier“, sagte er und zerriss demonstrativ mein Flugticket – das war zwar Unsinn, gebucht ist gebucht, aber Lorenzo hatte schon immer einen Sinn für dramatische Effekte und dachte wohl, ich fände das romantisch. Fand ich nicht. Und setzte ihm nun doch differenziert auseinander (inzwischen kann ich nämlich sehr gut Italienisch), warum ich das für keine so gute Idee hielt – und dass wir vielleicht doch zu verschieden seien und uns trennen sollten. Das zu sagen, war erst recht keine gute Idee, die Druckstellen am Hals waren nicht ohne. Er hat sich natürlich sofort tausendmal entschuldigt, er liebe mich doch so sehr und dann musste er Gott sei Dank los. Die Kaserne hinterm großen Tor versteht da keinen Spaß. Manchmal haben militärische Strukturen ja durchaus auch Vorteile.
Jedenfalls, kaum war er weg, war ich es auch. War weg, bin immer noch weg, hab eine neue Handynummer, wer was von mir will, kann die Agentur anrufen. Bin auf Tour und mir geht es gut. Na ja, meistens. Ein paar Schlaftabletten habe ich in der Handtasche, okay, seine Hände an meiner Kehle war schon eine existenzielle Erfahrung. (...)
Gerade jetzt hält ein Zug an der Mole und ein Schwarm von Reisenden ergießt sich auf den Bahnsteig. (...)
Jetzt kommt einer mit langen Schritten in meine Richtung, also gibt es auch ein paar richtige Norddeichbesucher, vielleicht sogar ein Partygast. Hochgewachsen ist er, er kommt mir bekannt vor – nein, das ist jetzt nicht wahr! Das ist eine Halluzination, bestimmt! Habe normalerweise keine Halluzinationen, bin lediglich zur Zeit ein wenig schreckhaft, wer wäre das nicht, vorgestern der Eisverkäufer in Wilhelmshaven, der mir mit diesem typischen süditalienischen Akzent „Bella!“ hinterhergerufen hat – der hat schon für einen Adrenalinstoß gesorgt. Dabei war der klein und dick und sah überhaupt nicht aus wie Gary Cooper.
Aber jetzt. Oh Gott, er ist es wirklich. Das ist doch völlig unmöglich! Hilfe! (...)
Er lacht, zeigt seine schneeweißen Zähne, schaut mir tief in die Augen: „Il destino, das Schicksal hat es so gewollt, cara, nur das Schicksal.“
„Und meine Homepage“, fällt mir ein, da stehen ja die Tour-Daten drauf. Mist! Aber wer kann denn ahnen, dass mir der Typ tatsächlich hinterherreist. Und dass die ihn einfach reisen lassen. Und außerdem habe ich einen wirklich knackigen Drei-Sätze-Abschiedsbrief hinterlassen (wie gesagt, mein Italienisch ist inzwischen ziemlich gut – auch die vulgäre Variante von „Du kannst mich mal“) und dachte, es sei alles geklärt. Ich bin wohl doch ganz schön naiv.
Er will mich schon wieder küssen. Dieses Mal lasse ich ihn. Lieber nichts riskieren! Dass ich eben vor ihm zurückgewichen bin, hat ihm nicht gefallen, ich kenne diesen Ausdruck, der für einen kurzen Moment in seinen Augen war.
„Und jetzt gehen wir in dein Hotel und morgen kommst du mit mir nach Bari. Schluss mit deiner Hurerei auf der Bühne. Du gehörst mir und wirst meine Frau. Du willst es doch auch. Ich weiß es.“ (...)
Ich schaffe es, ihn erst mal in die Cocktailbar im Fährhaus zu bugsieren. Ich will nicht, dass irgendjemand unser Gespräch versteht und ich will auch nicht in die Nähe meines Hotels. Im Fährhaus findet wohl gerade eine Tagung statt, die Bar ist rappelvoll, wir sitzen ganz in der Ecke und Lorenzo holt unsere Getränke. Einen Martini für mich, einen doppelten Whisky für sich, das ist gut. Auch wenn er den harten Mann gibt – er verträgt nicht gerade viel. Und Alkohol lässt ihn friedlich werden. Gefährlich ist er nur nüchtern. (...)
„Auf uns, für immer“, hauche ich schnell, bevor er wieder den Arm um mich legt.
„Auf uns“, sagt er zufrieden und kippt den restlichen Whisky runter.
„Es ist zu früh zum Essen“, sage ich, „lass uns ans Wasser gehen. Weißt du noch, unsere Nacht am Strand von Monticelli?“
Ja, er weiß es noch. Und genau darauf hat er jetzt Lust. Strand, Meeresrauschen, heiße Liebesschwüre, und ich endlich wieder sein Eigentum. Dass es bald dunkel ist und ein frischer Wind weht, stört ihn nicht. (...)
„Vieni, Lorenzo“, rufe ich lachend. Er kommt mir nach, lacht ebenfalls, aber dann schlägt seine Stimmung auch schon wieder um, was soll das hier, komm zurück, von wegen Meer, das sei ja wieder alles so typisch deutsch, nur grauer Matsch, armes Deutschland, kein Vergleich zu den Stränden Italiens, viel zu weit vom Wasser weg, wer tut sich denn so was an, seine Sprache wird undeutlicher und dann flucht er, er ist mit seinen teuren Schuhen in ein Schlickloch getreten.
Ich bleibe stehen. „Vieni amore.“
Ich erinnere ihn wieder an Monticelli, das spornt ihn an. Ich höre das Rauschen, der leichte Grusel meiner Kindheit stellt sich ein, aber ich ignoriere ihn. Lorenzo ist ruhig geworden, trottet hinter mir her und atmet schwer.
„Was ist los?“, frage ich, aber da ist er auch schon zusammengesackt, hockt im Matsch.
„Amore?“, frage ich.
Die Autorin
Jutta Wilbertz wohnt mit ihrer Familie in Köln. Sie hat in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften studiert und zudem eine Schauspiel- und Gesangsausbildung in Rom und Köln absolviert. Wilbertz – Jahrgang 1964 – schreibt nach eigenen Angaben nicht nur Kurzkrimis, sondern auch Liedertexte, Glossen und Bühnenprogramme.
„Feinste Friesenmorde – Die große Entscheidung“: Die Verleihung des Preises der zehnten Ostfriesischen Krimitage mit Joe Bausch findet am 10. November ab 20 Uhr in der Nordseehalle Emden statt. Karten kosten 22,75 Euro.
Die Anthologie des Krimipreises mit 24 Kurzgeschichten heißt „Feinste Friesenmorde“ und ist im Buchhandel (ISBN 9-783864-122071) für 10 Euro erhältlich.
Er winkt ab, versucht wieder aufzustehen. „Aspetta, momento“, lallt er, versucht es noch einmal, aber es geht nicht. Und dann kippt er auf die Seite, liegt da wie ein Embryo, ganz zusammengezogen, seufzt, grunzt etwas und sein Atem wird ruhig und gleichmäßig. Es ist jetzt fast ganz dunkel, aber ich weiß, wie sein Gesicht aussieht. Wie ein Erzengel. Wie oft hab ich ihn verzückt angeschaut, wenn er eingeschlafen war, danach. Vorsichtig lege ich ihn etwas bequemer hin, bette liebevoll seinen Kopf auf den Arm, damit er noch eine Weile Luft bekommt. Stabile Seitenlage nennt man das. Dann muss ich los, zum Auftritt.
Der ist übrigens ein voller Erfolg! Als ich die „Lili Marleen“ singe, habe ich selber eine Gänsehaut, so gut war ich noch nie. Vielleicht, weil ich so intensiv an Lorenzo denken muss, mit seinem Gary-Cooper-Gesicht, das im Schlaf so weich und zärtlich aussieht. Eigentlich hätte er immer schlafen sollen. Gut, in gewisser Weise tut er das jetzt auch. Ein verirrter Tourist, der sich nicht mit den Gezeiten auskannte, was für ein bedauerlicher Unfall. Bis er irgendwo angeschwemmt wird, bin ich schon weg. Und hoffe einfach, dass sich keiner aus der Bar an uns erinnert, es war wirklich ziemlich voll.
Jedenfalls habe ich zum Zeitpunkt des Todes durch Ertrinken „In Oostfreesland is’t am besten“ gesungen, dafür gibt es Zeugen. Seinen Pass schmeiß ich später weg. Und den Rest der Schlaftabletten habe ich ins Klo geschüttet. Ehrlich gesagt sind die mir dann doch zu stark. Die eine in Lorenzos letztem Whisky hat ja völlig für ihn gereicht. Und ich brauch sie nicht mehr. Das Kapitel Lorenzo ist also endlich abgeschlossen. Hab ihn ins Watt geschickt – in der Wüste wollte er ja nicht bleiben.