70 Jahre OZ
Die Region Wittmund macht ihren Weg – ganz unaufgeregt

Schützenfest und Luftwaffe: Hier lässt man es bei aller Bescheidenheit gerne so richtig krachen. Wittmund ist ein Landkreis voller Widersprüche – und damit voller Leben, Leidenschaft und Möglichkeiten.
Wittmund - Als Grundschulkind rumorte ich unbeschwert am Wittmunder Stadtrand herum und durchstreifte mit meinem Hund, einem echten Blomberger Dorfköter, Wiesen und Felder. Die Finkenburgschule war Anfang der 1990er Jahre mein Arbeitsplatz, der Pudding einer meiner liebsten Spielplätze. Zwischen Eis Willis Straßenecke, Kaufhaus Weichers und Spielwaren Schmied habe ich so manche schöne Stunde erlebt. Damals war mein Wittmund zwar klein – aber durch und durch aufregend und liebenswert.
Wenig später zog es mich nach Friesland, danach hinaus in die Welt. Die Entscheidung, ausgerechnet in Wittmund als Journalistin für Land und Leute tätig zu sein, lag wohl nahe – und ergab sich wie von selbst. Obwohl einer der kleinsten Landkreise in Deutschland, hat Wittmund doch so viel zu bieten: wunderbare Sielorte mit mehr Touristen als Möwen, mächtig viel Wind von vorn dank einer schier unendlichen Anzahl von Windkraftanlagen und eine Alarmrotte der Luftwaffe. Kinder zeigen begeistert mit dem Finger auf die Jets am Himmel und wollen sich zugleich schreiend die Ohren zuhalten.
Kavernen: Anwohner sorgen sich
Wittmund hat einen besonderen Reiz, dem auch Landrat Holger Heymann (SPD) erlegen ist: Statt als Landtagsabgeordneter in Hannover verbringt er seine Zeit lieber im Wittmunder Kreishaus. Heymann ist Holtriemer Jung und ohne etwas Wind von vorn fehlte ihm vermutlich etwas.
Denn zwischen Neuharlingersiel und Marx, Fulkum und Asel läuft nicht immer alles glatt. Einer wünscht sich mehr Windräder, der andere aber kann dann nicht schlafen, weil die irrsinnig laut sind und monströse Schatten werfen. Die Kavernen spülen ordentlich Geld in die Friedeburger Gemeindekasse. Anwohner aber sorgen sich, sie könnten auf einem sprichwörtlichen Pulverfass leben. Die Umgehungsstraße von Bensersiel sollte dem Ortskern die touristische Weiterentwicklung ermöglichen. Blöderweise ist sie aber für den Verkehr gesperrt.
Schützenfest in Esens lockt regelmäßig Zehntausende an
Mein Wittmund ist ein Landkreis voller Widersprüche – und damit voller Leben, Leidenschaft und Möglichkeiten. Die Menschen lieben es, ihre Ruhe zu haben – aber feiern auch ausgelassen miteinander. Das Schützenfest in Esens lockt regelmäßig Zehntausende an. Es wird geredet, getanzt und das Brauchtum hochgehalten. Auf dem Bürgermarkt in Wittmund liegen sich Freunde und Fremde in den Armen. An solch besonderen Tagen sind gern alle ein bisschen Wittmund. Der Kreisstadt-Bürgermeister Rolf Claußen (parteilos) zumindest glaubt fest daran: „Wir sind Wittmund“ ist vermutlich sein Lieblingsspruch. Auch mich empfängt mein Wittmund immer mit offenen Armen, wenn ich über die goldene Linie, die die Landkreise Wittmund und Friesland trennt, einreise. So bin auch ich stets ein bisschen Wittmund.
Mein Wittmund als Lebensgefühl. Ein Lebensraum für Macher, für Mutige. In Wittmund brennt ein und derselbe Elektronik-Fachhandel gleich zweimal nieder. Und wird voller Tatendrang wieder aufgebaut. Steht ein Teil der Gesamtschule in Flammen, wird er einfach schöner, funktionaler und moderner wieder aufgebaut. Herausforderungen scheut man in diesem Teil Ostfrieslands wahrlich nicht.
Wittmunder Krankenhaus: Kinder bekommen ist seit 2019 vorbei
Bescheidenheit und Freundlichkeit sind Tugenden, die viele Wittmunder ausmachen: So produziert man in Holtriem gebrannte Klinker oder am Rande der Kreisstadt Fensterbeschläge für das ganze Land. Damit geprahlt wird nicht. Mein Wittmund freut sich stattdessen lieber still und heimlich über die vielen Arbeitsplätze, die heute zur Auswahl stehen. Diese ehemals wirtschaftlich benachteiligte Region macht ihren Weg, ganz unaufgeregt.
Mein Wittmund wächst und gedeiht. Junge Menschen bleiben in ihrer Heimat und arbeiten daran, sie noch schöner zu machen. Warum auch nicht? Mein Wittmund macht vieles möglich: ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen. Zeugen ja, zur Welt bringen nein: Im Wittmunder Krankenhaus wird man bestens umsorgt, Kinder bekommen aber ist seit 2019 vorbei. Damit gibt es immer weniger „echte“ Wittmunder, die dies per Geburtsurkunde belegen.
Auswärtige werden angelockt
Aufziehen aber kann man Kinder im grünen Landkreis mit dem maritimen und hin und wieder politischen Reizklima gut: Die Städte und Gemeinden erschließen attraktives Bauland, damit sich hier jeder einrichten kann, wie es ihm beliebt. Das und andere Vorzüge locken Auswärtige an. Manche spülte der Krieg an die Küste.
Diese „Wittmunder 2.0“ entdecken so manches, was für Alteingesessene längst Alltag ist. „Wir sitzen alle in einem Boot“ ist so viel mehr als der Titel der Skulptur vor dem Kreishaus. Mein Wittmund hat die Ruder selbst in der Hand. Im Dialog wird es noch bunter, aufgeschlossener und liebenswerter. Ich freue mich schon drauf, weiterhin Wittmund zu sein.