70 Jahre OZ

Der Politiker, die Wahrheit, der Leserbriefschreiber

Ute Kabernagel
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Von Ute Kabernagel
| 09.10.2020 00:00 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Politiker, Wahrheit, Leserbriefschreiber: Natürlich kann man alle über einen Kamm scheren. Wir beschreiben aber lieber echte Typen.

Ostfriesland - Wie ist er, der Politiker? Klar wissen wir, dass es nicht nur einen gibt. Herr L. aber sieht das anders. Für ihn ist einer wie der andere: schlecht. Die eigenen Namen gesteht er ihnen zwar noch zu, die nennt er auch gerne. Aber den Politiker, den mag er nicht.

Der eine ist strohdoof, die andere schwachsinnig, einer ist für nichts zu gebrauchen und alle sind schuld an allem. Deshalb müssen sie sich auch über nichts mehr wundern. Herr L. ist zornig. Ihm laufen viele Läuse über die Leber. Und die scheucht er dann über seine Tastatur. Herr L. schreibt Leserbriefe – regelmäßig.

Nicht alle Leserbriefschreiber sind wie Herr L.

Und mir macht er – fast genauso oft – Kopfschmerzen. Ist „strohdoof“ schon eine Beleidigung? Dann hat sie in der Zeitung nichts zu suchen. Ist es Meinung? Für Herrn L. ist es die Wahrheit. Und die wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Mit der Wahrheit ist es nun aber mal so eine Sache. Es gibt mindestens so viele wie Politiker. Jeder hat seine eigene – auch Leserbriefschreiber. Nur manchmal ist die Wahrheit leider nicht wahr oder sie ist verletzend, Rufmord, eine Drohung . . . nichts, was wir veröffentlichen wollen, können, dürfen – auch wenn Herr L. das nicht verstehen will. Deshalb ruft er an. Immer wieder. Fragt nach seinen Leserbriefen. Ich erkläre ihm, warum wir sie nicht abdrucken – regelmäßig. Herr L. zeigt sich auch fast jedes Mal einsichtig. Sagt, dass er es beim nächsten Mal anders machen wird. Und dann laufen ihm wieder Läuse über die Leber . . .

Natürlich sind nicht alle Leserbriefschreiber wie Herr L. Auch von ihnen gibt es mindestens so viele verschiedene wie Politiker. Oder Wahrheiten. Bei ein paar von ihnen entdecken wir immerhin Ähnlichkeiten. Ein – zugegeben nicht ganz ernsthaft gemeinter – Versuch, sie in ihre Schubladen zu pressen.

Die Trickser

Schreiben zu vielen Themen, haben aber eigentlich nur eine Botschaft. Die jubeln sie uns immer wieder unter – egal, ob sie sich zu Artikeln über Grünkohl, Spielzeug oder Carsharing äußern. Und Grünkohl mit dem Ende der Freiheit durch Corona in Verbindung zu bringen, das muss man erst mal schaffen.

Die Hellseher

Lügen, beleidigen, denunzieren munter drauflos. Beziehen sich gerne auf die sozialen Netzwerke als Informationsquelle – als seriöse natürlich. Und jedes Mal lassen sie uns spätestens am Ende ihrer Ausführungen wissen, dass wir ihre Leserbriefe ja sowieso nicht veröffentlichen werden – weil wir uns nicht trauen. Genau.

Die Neunmalklugen

Weisen uns immer wieder gerne auf Fehler hin. Ja, es ist doof, wenn Frau Meyer in einem Artikel mit ey und mit ei geschrieben wird oder der Papst nicht zwei Ps verpasst bekommt, vorne und in der Mitte. Sechs, setzen. Wir haben verstanden – und geloben Besserung. Aber auch wenn wir alles tun, um sie zu vermeiden: Feler passieren.

Die Stimme des Volkes

Weiß angeblich, was alle denken, und spricht es aus: Steuern rauf, Maske auf, Grundschule zu, Flüchtlinge rein – alles nicht gewollt. Die Politik sollte ihre Entscheidungen noch mal „überdenken“, drohen die Fürschreiber des Volkes. Denn – beliebter Schlusssatz: Bald sind Wahlen und das letzte Wort hat immer der Wähler.

Die Dinosaurier

Schreiben mit der Hand und an die liebe oder sehr geehrte Redaktion. Höflichkeit ist ihnen wichtig, ihren Füller würden sie nie hergeben, Computer sind ihnen ein Graus. Brief muss Brief bleiben. Wir bedauern, dass sie aussterben.

Die mit dem Wolf heulen

Werden bissig, wenn es gegen ihren Liebling geht – das muss nicht immer der Wolf sein. Auch Fuchs und Gans haben ihre Beschützer. Der ein oder andere verteidigt sogar blöde Kühe, große Schweine oder selbstverliebte Gockel.

Die Wichtigen

Lassen uns und im CC den Chef in ihren Anschreiben gerne wissen, dass ihr Leserbrief wichtiger ist als jeder andere – und schnellsten abgedruckt werden muss. Schließlich wird in Hannover und Berlin – und nicht nur dort – auf ihre richtungsweisende Meinung schon gewartet. So wird Politik gemacht.

Die Zurückhaltenden

Äußern sich nur, wenn ihnen ein Thema wirklich wichtig ist. Jede Zeile ist wohl durchdacht. Häufig lassen sie uns auch wissen, dass sie eigentlich nie Leserbriefe schreiben, es in diesem Fall aber nicht anders ging. Dann entschuldigen sie sich. Wofür?

Die Ironischen

Im Ernst: Mit dem feinen Spott ist das in der Regel so eine Sache – den versteht nicht jeder. Und die Kunst, ihn zu vermitteln, beherrscht auch nicht jeder. Die, die sich darauf verstehen, werden von uns gefeiert. Oft reichen ihnen übrigens wenige Sätze – manchmal tun es sogar nur ein paar Worte.

Die Traurigen

Leben in der Vergangenheit, von der sie gerne erzählen. Von ihrem Beruf, ihrer Kindheit, von Frauen, die noch kochen konnten, Männern, die echte Männer waren. Kurzum: Früher war alles besser – aber früher hätte man manche Leute auch bei Nebel ins Watt gejagt – also Vorsicht!

Die Ausschweifenden

Umgehen die Längenregelung für Leserbriefe. 60 Zeilen? Geht gar nicht. Was sie zu sagen haben, ist dafür viel zu wichtig. Und zu kompliziert – sie müssen schließlich Sachverhalte erklären. Dafür brauchen sie viele Worte – und sie kämpfen um jedes. „Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen?“ Nee, denn das wäre nicht fair. Kürzen geht immer, hab ich mal gelernt. Und meistens ist weniger tatsächlich mehr.

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