Ingelheim (dpa)

„Haderbücher“ geben Einblick ins Dorfleben vor 500 Jahren

Peter Zschunke, dpa
|
Von Peter Zschunke, dpa
| 28.11.2020 09:40 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 3 Minuten
Artikel hören:
Artikel teilen:

Welche Schmach: Im Sommer 1521 klagte der Ingelheimer Henne Pfeffer, dass er öffentlich als „Lecker“ beschimpft worden sei. Einzigartige Gerichtsprotokolle haben diesen und anderen Zoff festgehalten.

Beleidigungen, Schlägereien, Streit um Äcker, Arbeit oder Geld: Das Zusammenleben im Dorf war vor 500 Jahren alles andere als konfliktfrei.

Festgehalten haben den Zank Gerichtsprotokolle des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit aus Ingelheim am Rhein. Diese „Haderbücher“, benannt nach dem alten Wort für Streit, können im Internet eingesehen werden.

„Das ist einzigartig in Deutschland“, sagt der Historiker Stefan Grathoff, der an der Digitalisierung dieser bis ins Jahr 1387 zurückreichenden Quellen und ihrer Veröffentlichung im Internet mitgearbeitet hat. Solche Gerichtsbücher gebe es zwar in ganz Deutschland verteilt, aber nirgends in einer solchen Fülle wie für Ingelheim. „Die Protokollbücher gelten als die ältesten seriell erhaltenen gerichtlichen Textzeugnisse im deutschsprachigen Raum“, erklärt das Stadtarchiv Ingelheim zu seinem besonderen Schatz.

Jahr für Jahr hielten die meist alle zwei Wochen tagenden Ortsgerichte in Ober-Ingelheim, Nieder-Ingelheim, Wackernheim und Groß-Winternheim ihre Verfahren schriftlich fest. So legte im August 1521 der Ober-Ingelheimer Henne Pfeffer einen „Klagezettel“ gegen Hans Wagener vor. Darin führt Pfeffer aus, dass er „seinen Tag ehrlich, friedlich und ohne Streit zugebracht habe“, dass Wagener ihn aber „auf öffentlicher Straße, im Beisein vieler frommer Bürger zu Ingelheim immer wieder als einen Lecker und einen Verräter mit schmähender Absicht beschimpft“ habe. Der Kläger führte aus, dass ihn „diese zugefügte Schmach ans Herz und ans Gemüt gegriffen habe“.

Der Beklagte holte sich wohl juristischen Rat und erwiderte, dass sich der Kläger zum Teil auf bürgerliches Recht, zum anderen Teil aber auf „peinliches Recht“, also auf das Strafrecht beziehe. Beides dürfe aber nicht miteinander vermengt werden. Die Sache blieb dann ohne Urteil.

Häufig versuchten die Richter, Kläger und Beklagte zu einer gütlichen Einigung zu bewegen. „Denn der Mund sei ihnen gegeben worden, dass die Parteien sich einigen“, hieß es zu einem Streit im Jahr 1481.

Die „Haderbücher“ geben Aufschluss über die Entwicklung der Justiz und die Bedingungen des dörflichen Alltagslebens im 15. und 16. Jahrhundert. 2010 entstand am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz das Projekt, diese besondere Quelle zu publizieren. Drei Bände wurden gedruckt, dann zogen die „Haderbücher“ ins Internet um. Auf einer umfangreichen Plattform können sie gelesen und durchsucht werden.

Mit der kürzlich abgeschlossenen Publikation des „Wackernheimer Haderbuchs 1472-1501“ sei das finanziell von der Stadt Ingelheim und dem Unternehmen Boehringer Ingelheim getragene Projekt nun vorerst beendet, sagt Grathoff. Allerdings gebe es noch weitere Bücher, deren Publikation lohnenswert wäre.

„Das ist eine einzigartige Quelle zum Alltagsleben, zu den sozialen Strukturen im Dorf, zu Weinbau und Landwirtschaft“, sagt der Historiker. Die Gerichtsprotokolle zitieren die Beteiligten in indirekter Rede, „so dass man dem damals gesprochenen Wort sehr nahe kommt“. Damit seien die „Haderbücher“ ein Schatz für Linguisten und Sprachforscher.

© dpa-infocom, dpa:201128-99-494086/2

Ähnliche Artikel