Best of 2022 Rückwärts-Lauf fällt nach Leukämie-Schock kürzer aus

| | 17.05.2022 12:12 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Laufen hier die Männer (links Helge Rademacher, daneben Klaus Arping) in die Frau mit ihrem Hund rein? Nein. Auch wenn es nicht so aussieht, sie laufen alle in die gleiche Richtung. Denn die Männer „rennen“ rückwärts. Foto: Privat
Laufen hier die Männer (links Helge Rademacher, daneben Klaus Arping) in die Frau mit ihrem Hund rein? Nein. Auch wenn es nicht so aussieht, sie laufen alle in die gleiche Richtung. Denn die Männer „rennen“ rückwärts. Foto: Privat
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Für Helge Rademacher lief die Baltrum-Tour anders als geplant – wegen einer Schockdiagnose. Dafür meisterte sein Kumpel den Marathon alleine – rückwärts laufend.

Diese tragische Geschichte von einem kuriosen Lauf-Vorhaben im Mai auf Baltum hat mich beim Schreiben besonders berührt. Noch mal stärker emotional traf es mich aber, als ich nun in Vorbereitung auf meinen persönlichen Best-Of-Artikel des Jahres den Namen des damaligen Protagonisten googelte. Nur ein paar Tage, bevor ich „Helge Rademacher aus Wesel“ in die Suchmaschine eingab, war er verstorben. Der 59-Jährige hatte den Kampf gegen Krebs verloren – den Kampf gegen die Krankheit, von der er mir noch am Tag der Leukämie-Diagnose erzählt hatte. Dabei sollte es im vorher vereinbarten Telefon-Gespräch eigentlich nur um den Rückwärts-Marathon gehen, den er Tage später gemeinsam mit seinem Kumpel auf der ostfriesischen Insel Baltum absolvieren wollte. Helge Rademacher klang geschockt, und dennoch war seine Lebensfreude und sein stetiger Optimismus unverkennbar rauszuhören.

So verwunderte es mich nicht, dass er das Vorhaben auf Baltrum, auf das er sich monatelang gefreut und vorbereitet hatte, anging. So gut es der Körper eben mitmachte. Davon berichtete er mir nach dem Baltrum-Trip, auch nannte er mir sein nächstes sportliches Ziel, die Rückwärtslauf-WM im Sommer 2023 in Oldenburg. Leider wird er bei diesem Event nicht mehr mit dabei sein können. Was mir bleiben, sind Erinnerungen an Gespräche mit einem sympathischen, aufgeschlossenen und laufverrückten Mann, dieser Artikel und eine Zeichnung, die er mir höchstpersönlich als Dank für eben jenen widmete.

Diese Zeichnung ließ mir Helge Rademacher im Mai zukommen. Tage zuvor hatte ich über sein aufgrund der Krankheit anders verlaufenes Rückwärtslauf-Vorhaben auf Baltrum berichtet.

Baltrum - Akute Leukämie: Diese Schockdiagnose erhielt Helge Rademacher am vergangenen Mittwoch – einen Tag vor Beginn der lange geplanten Reise nach Baltrum. Auf der kleinsten der ostfriesischen Inseln wollte der 58-Jährige aus Wesel (Nordrhein-Westfalen) gemeinsam mit seinem Kumpel Klaus Arping einen Marathon laufen. Und zwar rückwärts. Plan war es, dass sich die beiden auf einer 2,3 Kilometer langen Runde entlang der Strandpromenade und durch den Ort abwechseln – sie sozusagen zusammen auf die 42,2 Kilometer kommen. Doch daraus wurde nichts.

„Vor fünf Wochen konnte ich noch locker 30 Kilometer joggen. Gar kein Problem“, schildert Helge Rademacher. Doch dann – mitten in der Hochtrainingsphase für den geplanten Rückwärts-Marathon mit fast täglichen Einheiten – konnte der Freizeitbetreuer eines Kinderheims plötzlich nicht mehr so wie er wollte. Irgendwas stimmte nicht, das wurde ihm relativ schnell klar. Nach mehreren Arztbesuchen und Untersuchungen bekam Helge Rademacher am vergangenen Mittwoch die erschütternde Blutkrebs-Diagnose per Mail. Die geplante Reise am nächsten Tag mit seiner Frau Gudrun, seinem Freund Klaus Arping und dessen Frau Iris wollte Helge Rademacher trotzdem durchziehen – und so gut es geht genießen. Ein Jahr lang hatte er sich auf diese Tour gefreut und Monate daraufhin trainiert.

Endspurt für den Freund durchgezogen

Bei der Anfahrt am Donnerstag war klar: Den angestrebten Rückwärts-Marathon wird Helge Rademacher nicht schaffen. „Ich konnte nur 500 Meter am Stück laufen und habe dann Pause gemacht“, sagt der Mann aus Wesel emotional mitgenommen. Auf diese Weise kam er über den Tag verteilt auf immerhin stolze neun Kilometer.

Und was wurde aus dem Lauf seines Kumpels Klaus Arping? Der 57-Jährige hielt an seinem Marathon-Ziel fest – obwohl er sich die Strecke nicht wie geplant mit seinem Freund teilen konnte. Arping meisterte die 42,3 Kilometer auf Baltrum tatsächlich alleine. Um 10 Uhr joggte Klaus Arping bei windigen Bedingungen los, wie gesagt: rückwärts. Zweimal legte er eine fünfminütige Unterbrechung ein und war gegen 16.30 Uhr körperlich und streckentechnisch am Ende. „Unterwegs habe ich mit vielen verwunderten Passanten gesprochen, ein Walker ist auch eine kurze Strecke mit mir mitgelaufen. Das war schön“, sagt der Lagerverwalter einer Holzfirma. „Die letzten zehn Kilometer waren aber hart. Da hatte ich nur noch Helge im Kopf. Ohne ihn hätte ich das nicht mehr geschafft“, erzählt Klaus Arping. Tags drauf machte sich der Muskelkater bemerkbar – vor allem in den Waden: „Ich kam kaum die Treppen hoch.“

An zwei Weltmeisterschaften haben Helge Rademacher (Dritter von links) und Klaus Arping (Zweiter von rechts) im Rückwärtslaufen teilgenommen. In Bologna gewann Helge Rademacher vor vier Jahren über 5000 Meter sogar den Titel. Foto: Privat
An zwei Weltmeisterschaften haben Helge Rademacher (Dritter von links) und Klaus Arping (Zweiter von rechts) im Rückwärtslaufen teilgenommen. In Bologna gewann Helge Rademacher vor vier Jahren über 5000 Meter sogar den Titel. Foto: Privat

In Bologna Weltmeister geworden

Das Rückwärtslaufen ist für die beiden Freunde nichts Neues. „Anfangs hatten wir uns noch ständig umgeguckt, wo wir lang laufen. Das ging dann auf den Nacken. Mittlerweile schauen wir deutlich seltener nach hinten“, sagt Arping. „Denn wir haben ein gewisses Gespür entwickelt und verlassen uns auf Geräusche. Deshalb waren bei dem Lauf auf Baltrum nicht die Passanten das Problem, sondern eher die vielen Pferdeäpfel.“

Zum Rückwärtslaufen kamen Arping und Rademacher vor mehr als zehn Jahren. Sie hatten bei einem Rückwärtslauf, der nur wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt in der Gemeinde Alpen durchgeführt worden war, teilgenommen – ebenso wie der damalige Rückwärtslauf-Weltrekordler Achim Aretz über die zehn Kilometer (40:02 Minuten). „Er fragte, ob wir nicht bei der Weltmeisterschaft teilnehmen wollen. Und wir sagten uns, warum auch nicht?“, erinnert sich Helge Rademacher. Er gewann bei seiner zweiten WM in Bologna 2018 sogar den Titel in der ältesten Altersklasse. 29:37 Minuten brauchte Rademacher für fünf Kilometer im „Rückwärts-Rennen“.

WM in Oldenburg im Blick

Die Freunde laufen „normal“ auch vorwärts, starten aber ungefähr einmal im Jahr bei einem Volkslauf rückwärts. „Durch Corona sind in den vergangenen Jahren aber alle Wettkämpfe ausgefallen, so dass wir uns ‚coronakonforme‘ Strecken überlegt haben. So sind wir auf die autofreie Insel Baltrum gestoßen“, erklärt Helge Rademacher.

Die Tour am Wochenende verlief zwar sportlich nicht wie zuerst geplant. „Aber immerhin konnte ich alles Drumherum etwas vergessen“, sagt der 58-Jährige. Nach der Rückfahrt am Montag holte ihn der Krankheitsalltag jedoch schnell wieder ein. Erst musste er zum Hausarzt, am 24. Mai geht es zur Uniklinik nach Essen. „Dann wird detailliert geschaut, wie es weitergeht.“ Den Umständen zum trotz lässt er sich nicht davon abhalten, sportliche Events ins Auge zu fassen. So wird im Sommer kommenden Jahres die Rückwärtslauf-WM in Deutschland ausgetragen: in Oldenburg. „Da dabei zu sein, wäre eine tolle Sache.“

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