Best of 2022 Die schwarzen Teufel von Ihlow

| | 06.07.2022 17:20 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
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Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen
Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen
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Der schwarze Rehbock im Revier Westerende-Kirchloog taucht bei Dämmerung oft wie aus dem Nichts auf – und er ist nicht alleine. Die Geschichte eines Phänomens.

Dieser Artikel steht für mich dafür, warum ich meinen Beruf so liebe. Auch in den Lokalredaktionen gehen wir Mysterien auf den Grund, bestehen Abenteuer, lernen spannende Menschen und verschiedenste Lebensentwürfe kennen. Ich liebe es so sehr, meinen Horizont täglich auch beruflich erweitern zu können und die Geschichte hinter der Geschichte auszugraben.

Westerende-Kirchloog - Da steht er plötzlich mitten auf dem Feld, der pechschwarze Rehbock. Sein dunkles Fell wird von der Dämmerung fast verschluckt. Jeder Zentimeter seines Körpers absorbiert die Strahlen der untergehenden Sonne. Nicht einmal auf seinen Pupillen ist eine Reflexion des Lichts zu sehen. Einzig sein helles Gehörn leuchtet in der Sonne und scheint fast in der Luft zu schweben. Seit diesem Tag jage ich das Tier. Mit der Kamera – nicht mit einem Gewehr. Schwarze Rehe sind selten. Ein Kollege hatte mir den Hinweis gegeben, dass hier eines lebt. Es ist das einzige schwarze Reh, dass sich regelmäßig beobachten lässt.

Was und warum

Darum geht es: In Ihlow lebt ein schwarzer Rehbock, der sich gerne öffentlich zeigt. Er ist einer von drei schwarzen Tieren in Westerende-Kirchloog.

Vor allem interessant für: Naturfreunde, Jäger und Tierliebhaber

Deshalb berichten wir: Der Bock begegnete einem Arbeitskollegen. Der hat uns durch seine Erzählungen neugierig gemacht.

Die Autorin erreichen Sie unter: n.boening@zgo.de

Bei der Recherche im Internet führt an Wildmeister Jens Krüger kein Weg vorbei. Er organisiert bezahlte Jagden und ist seit Jahrzehnten begeistert von den mystischen Tieren. Im Jagdmagazin „Pirsch“ schreibt er über das schwarze Rehwild sinngemäß: Die Zahl der Jäger, die einmal im Leben „einen schwarzen Teufel“ erlegen möchten, sei immer größer geworden. Selbst überzeugte „Auslandsjäger“ hefteten sich mittlerweile an seine Fersen. Schwarze Rehe statt Löwen, Giraffen und Elefanten? Moment mal: Wenn dieser Text über den jungen Bock veröffentlicht wird – muss er dann um sein Leben fürchten?

Das Tier soll nicht gejagt werden

„Nein, dem Tier wird nichts passieren“, beruhigt Garrelt Saathoff, Mitjagdpächter im Revier Westerende-Kirchloog. Hier ist das Zuhause des geheimnisvollen schwarzen Tieres. Wer den schwarzen Bock schießen möchte, kommt an ihm und den anderen Jagdpächtern des Reviers nicht vorbei. Auch wenn wilde Tiere niemandem gehören: Solange die standorttreuen Rehe in diesem Revier leben, tragen die Jagdpächter die Verantwortung. Und sie sind sich einig: Sie wollen die schwarzen Rehe erhalten. Dass ihnen nichts passiert, hat Garrelt Saathoff im Blick.

Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen
Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen

Selbst die Rehbock-Jagd mit der Kamera hat er seit dem ersten Tag verfolgt. Beim Treffen erzählt er die Geschichte des schwarzen Teufels: Das schwarze einjährige Bockkitz kennt Saathoff schon seit der ersten Lebenswoche: „Wir haben es im vergangenen Jahr mit der Drohne vor der Mahd gerettet“, erinnert er sich. Der kleine Bock sei damals mit einem normal gefärbten rotbraunen Zwilling gefunden worden. In diesem Jahr hat eine schwarze Ricke im tiefen Gras einer benachbarten Streuobstwiese wahrscheinlich wieder ein Kitz gesetzt. Ob es auch schwarz ist? Bisher hat es noch niemand zu Gesicht bekommen. Ein weiteres schwarzes Exemplar lebt ein wenig abseits. Noch sind es also mindestens drei.

Die rotbraunen kommen auch raus, wenn es noch hell ist

Meist sind nur die rotbraunen Verwandten zu sehen, wenn die Sonne noch weiter oben steht. Wer den schwarzen Bock sucht, findet ihn oft erst, wenn es draußen zu dunkel ist, um zu fotografieren. Einmal steht er mit einem ebenfalls schwarzen Artgenossen weit entfernt am Horizont. Dann schleicht er in einem Graben davon. Ein anderes Mal verschwindet er in einem Gebüsch. Nie ergeben die Treffen ein brauchbares Bild. In der Dunkelheit bleibt kaum mehr als ein schwarzer Schatten.

Das Bockkitz vom Vorjahr ist pechschwarz und bei schlechtem Licht kaum zu fotografieren. Annika Janssen hat es geschafft. Foto: Saathoff
Das Bockkitz vom Vorjahr ist pechschwarz und bei schlechtem Licht kaum zu fotografieren. Annika Janssen hat es geschafft. Foto: Saathoff

„Faszinierend bei den schwarzen Tieren ist, dass sie ausschließlich in Deutschland und hier nur im Elbe-Weser-Dreick vorkommen“, erklärt Dr. Oliver Keuling von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Ein weiteres Phänomen: „Sie werden vor allem auf feuchten Moorböden gesichtet.“ Über die schwarzen Rehe sei nicht viel bekannt, weder über die Genetik noch über die Herkunft. Vielleicht, überlegt Keuling, seien sie auch deshalb nicht so gut erforscht, weil die Norddeutschen bei solchen Phänomenen so tiefenentspannt sind. Er lacht am Telefon. Das Motto: Leben und leben lassen.

Schwarze Rehe schon vor 1000 Jahren legendär

Laut Jagd-Fan Krüger ist die Existenz schwarzer Rehe schon um das Jahr 980 urkundlich belegt. Demnach war jedes Jahr eine bestimmte Anzahl an schwarzem Rehwild für die bischöfliche Küche von Minden zu liefern. Die schwarzen Ihlower Rehe werden nicht gegessen. Die Jagdpächter in Westerende-Kirchloog wollen die Tiere lieber ansehen, als für die Jagd ein dickes Handgeld zu kassieren. „Manche inserieren sogar in den Jagdzeitschriften und zahlen dafür, ein schwarzes Reh zu finden, das sie schießen können“, sagt Saathoff.

Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen
Der junge Bock in seiner ganzen Pracht. Nicht alle schwarzen Rehe sind so oft zu sehen wie er. Foto: Janssen

Laut Kreisjägermeister Peter Lienau gibt es außer der schwarzen Sonderedition auch noch gescheckte und noch seltenere weiße Tiere. „Manche sind tatsächlich einfach nur weiß und haben, anders als Albinos, keine roten Augen, keine rötliche Nase und auch keine hellen Klauen“, sagt Lienau. Ein solches Exemplar hatte ein Hobby-Fotograf im Juni 2021 im Hankhauser Moor in Rastede mit einer Drohne aufgespürt. Das Muttertier wurde von einem natürlich gefärbten Kitz begleitet. Eine echte Rarität.

Anderes Wild – ähnliche Farben

Bei anderem Wild und seinen Farbvarianten kennt Dr. Oliver Keuling sich aus. Bei Damwild zum Beispiel hätten etwa drei Prozent der Tiere eine weiße Farbe und wesentlich häufiger kämen schwarze Tiere vor. Farbanomalien seien bei Damwild nichts Besonderes. Dort liege es an dem genetischen Nadelöhr, durch das sich die Population in Deutschland entwickelt habe. „Die meisten wildlebenden Exemplare gehen auf Tiere zurück, die aus einem Gatter in Kopenhagen ausgebrochen sind“, sagt er. Auch für hausschweinetypisch gefleckte Wildschweine gebe es eine Erklärung. „Dort haben sich tatsächlich Hausschweine eingekreuzt“, sagt Keuling.

Garrelt Saathoff kennt die Geschichte der schwarzen Teufel von Ihlow. Das Bockkitz hat die Drohnen-Staffel 2021 vor dem Mähtod gerettet. Foto: Böning
Garrelt Saathoff kennt die Geschichte der schwarzen Teufel von Ihlow. Das Bockkitz hat die Drohnen-Staffel 2021 vor dem Mähtod gerettet. Foto: Böning

Aber Rehe? „Die Vererbung zu erforschen war bisher noch nicht relevant“, schätzt er. Er tippt auf eine natürliche Genmutation, die sich nicht nachteilig auf das Überleben auswirkt. Anders als die weiße Farbe, mit der Rehe zur lebenden Zielscheibe werden. Dass es überhaupt keine Erkenntnisse zu den Ursachen gibt, stimmte bis April 2020. Damals veröffentlichte eine Forschergruppe unter Beteiligung der Humboldt-Universität und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin die ersten Ergebnisse zum Melanismus bei Rehwild.

Forscher haben die Gene untersucht

Das ist die Bezeichnung für die schwarze Färbung von Haut und Haaren. Sie entsteht durch eingelagerte schwarze Pigmente. Das Ergebnis der Forschung: Verursacher ist der gleiche Gendefekt, der aus Leoparden Panther macht oder Pferde zu Rappen werden lässt. Die Forscher schätzen, dass bis zu 25 Prozent der Tiere im Nordwesten diese Mutation aufweisen. Diese Erkenntnis ändert allerdings nichts an der Wahrscheinlichkeit, mit der die Färbung vererbt wird. Die gleicht weiterhin einer Wundertüte. Nur zwei schwarze Tiere bekommen sicher schwarzen Nachwuchs. Andererseits: Selbst zwei rote Rehe können schwarze Kitze bekommen, wenn die Gene stimmen und der Zufall mitspielt.

Wie es mit den schwarzen Teufeln von Ihlow weitergeht, entscheidet auch der Zufall und im Zweifelsfall der Straßenverkehr. Die mindestens drei Tiere wohnen genau dort, wo die B 210 n gebaut werden soll. Sie läuft zwischen einem Rückzugswäldchen und der Streuobstwiese, wo vielleicht gerade der vierte schwarze Teufel heranwächst. Dort traf ich auf Foto-Jagd im Unterholz nicht das schwarze Reh, sondern Anwohnerin Annika Janssen mit ihrer Kamera. Sie hatte den von mir gesuchten Rehbock bereits vor einiger Zeit vor die Linse bekommen und kennt ihn und die beiden anderen schwarzen Exemplare schon länger.

Von mindestens einem weiteren schwarzen Reh in Wiesmoor weiß auch sie. Eine Freundin hatte ihr ein Beweisfoto geliefert. Auch auf Borkum soll eines leben – davon kursieren Fotos auf Facebook. Sind die schwarzen Teufel vielleicht doch häufiger, als wir denken? Bekommen wir die geheimnisvollen Tiere einfach nur nicht zu Gesicht?

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