Best of 2022 Boah, ist das blau!

Heiko Müller und Mona Hanssen
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Von Heiko Müller und Mona Hanssen
| 27.10.2022 17:35 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Seit Mittwoch sieht Emden blau. Die Neutorstraße ist großflächig neu gestrichen. Foto: Ortgies
Seit Mittwoch sieht Emden blau. Die Neutorstraße ist großflächig neu gestrichen. Foto: Ortgies
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Emden erlebt gerade sein blaues Wunder - und zwar in einer neuen Runde des Verkehrsexperiments auf der Neutorstraße. Aber darf die Stadt das eigentlich?

Eine Stadt sieht blau: Die Experimente zur Verringerung des Autoverkehrs in der Emder Innenstadt erreichten im Herbst einen vorläufigen Höhepunkt. Die Stadtverwaltung ließ große Flächen der Neutorstraße, die mitten durch die City führt, blau einfärben und erntete dafür vor allen in den sozialen Netzwerken heftige Reaktionen. Die Diskussion dauert immer noch an.

Meine Kollegin Mona Hanssen und ich sind tags darauf der Sache auf den Grund gegangen, haben uns dem Thema aber mit viel Spaß und Heiterkeit auch augenzwinkernd genähert. Unsere Recherchen führten uns zu Behörden wie die Bundesanstalt für Straßenwesen, von der wir bis dahin noch nie etwas gehört hatten. Die Ergebnisse war zum Teil erstaunlich.

Emden - Ganz Emden staunt: So blau war man hier noch nie. Seit diesem Mittwoch beweist die Stadtverwaltung um Oberbürgermeister Tim Kruithoff (parteilos) in der Neutorstraße ganz viel Mut zu Farbe. Auf der Hauptverkehrsachse der Stadt, die seit dem vergangenen Jahr Austragungsort für umstrittene Verkehrsexperimente ist, sollen alle Verkehrsteilnehmer sofort erkennen können, dass Fahrräder hier Vorrang haben. Gibt man sich in anderen Städten dafür mit Hinweisschildern und zurückhaltenden Markierungen zufrieden, darf es in Emden augenscheinlich ein bisschen mehr sein.

Großflächig ist das „Schlumpfblau“ an der Einfahrt in die Neutorstraße vom Agterum kommend auf der gesamten Fahrbahn verteilt. Und das auf ganzer Länge der Neutor-Arkaden. Auch bei der Ausfahrt vor dem Rathausplatz darf es noch einmal blau werden. Die Farbe ist so knallig, dass die ersten Rad- und Autofahrer, die ab Donnerstagnachmittag wieder freie Fahrt hatten, wohl fürchten mussten, blaue Reifenspuren für den Rest des Weges zu hinterlassen. Wer über die Fläche läuft, erwartet einen fast schaumgummi-artigen Untergrund, so dick ist die Farbe aufgetragen. Und das bei einem Experiment, das zeitlich begrenzt ist.

Gehässige Kommentare in sozialen Medien

In den sozialen Medien überschlagen sich dazu die meist gehässigen Kommentare. Ob sich das jemand im wöchentlichen Stuhlkreis ausgedacht hat, fragt ein Nutzer unter einem Facebook-Beitrag in der Gruppe „Emden, dort lebe ich bzw. lebte dort“. Andere nehmen die Stadt in Schutz und weisen darauf hin, dass sich bei den sonstigen Experiment-Stufen viele über fehlende Markierungen und dadurch gefährliche Situationen zwischen Rad- und Autofahrern aufgeregt hätten.

Warum man sich gerade für Blau entschieden habe, wollen andere wissen. Grün sei doch die Hoffnung. Und tatsächlich ist die Farbgebung offensichtlich nicht vorgeschrieben: In der Stadt Aurich etwa haben Radfahrer in der Straße Grüner Weg Vorfahrt. Darauf weist aber weder eine blaue noch eine grüne Straßenmarkierung hin, sondern nur ein Schild. Allerdings: Kritik gibt es hier immer wieder, dass Autofahrer nicht genug Rücksicht auf Radler nehmen. In der Stadt Leer gibt es mittlerweile laut Internetseite der Verwaltung sechs Fahrradstraßen, die durch Schilder und Piktogramme sichtbar werden. In Emden gibt es schon neun. Zuletzt war die Hermann-Löns-Straße bei der IGS umgestaltet worden und auch hier hat man sich für blaue Flächen entschieden.

Ist das Blau eigentlich erlaubt?

Und Emden malt sich die Welt, wie es Tim gefällt. Die Verkehrsexperimente sind nämlich eines von Kruithoffs Herzensprojekten. Aber darf die Stadt das eigentlich? In der Straßenverkehrsordnung (StVO) steht von der Farbe Blau zumindest nichts. Die sieht in Paragraf 39 nur Markierungen in Weiß oder Gelb vor.

Vielleicht weiß die zuständige Bundesanstalt für Straßenwesen mit Sitz in Bergisch Gladbach mehr. Diese dem Bundesverkehrsministerium unterstellte Forschungseinrichtung hat den Auftrag, die Straßen sicherer, umweltverträglicher, wirtschaftlicher und leistungsfähiger zu machen. Die Antwort aus Bergisch Gladbach kommt prompt: Zuständig ist demnach der Bund-Länder-Ausschuss zu Fragen der Straßenverkehrsordnung. Diesem Gremium unter Leitung des Bundesverkehrsministeriums gehören Vertreter der obersten Verkehrsbehörden und der Polizei der Länder an.

Behörde: „Nicht im Sinne des Verkehrsrechts“

Demnach sind solche Einfärbungen „nicht im Sinn des Verkehrsrechts“, sagt eine Sprecherin. Das habe mehrere Gründe. Unter anderem stifteten sie Verwirrung und verstießen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Nicht im Sinne des Verkehrsrechts? Also unzulässig?

Die Stadt Emden meint: Das Blau für die deutliche Kennzeichnung einer Fahrradstraße sei „nicht ungewöhnlich“ und werde auch in anderen Kommunen entsprechend verwendet. „Wir haben dies zum Standard der Stadt Emden für Fahrradstraßen gemacht (siehe auch Herman-Löns-Straße). Es geht hier in erster Linie um die Sicherheit der Fahrradfahrer und die deutliche Markierung (auch in der Größe) der Fahrradstraßensituation in der Neutorstraße“, schreibt Sprecher Eduard Dinkela.

Ist das etwa Borssum-Blau?

Man kann diese Angelegenheit auch sportlich sehen: Demnach ist die „blaue Straße“ ein glatter Punktgewinn für Blau-Weiß Borssum, dem Heimatverein des Emder Oberbürgermeisters. Das Blau auf der Neutorstraße kommt nämlich den Vereinsfarben der Borssumer näher als denen des ewigen Rivalen Kickers Emden. Das Blau des Fußball-Regionalligsten ist dunkler. Ihren Ruf als „Autostadt am Meer“ wird Emden nun auch nicht verlieren. Denn Blau ist die Farbe des Meeres und die von Volkswagen. Was will man also mehr? Aber wie wär‘s künftig mit der „blauen Stadt“. Aber die gibt es schon kurz hinter der Grenze zu den Niederlanden.

Gesprächsthema Nummer eins ist und bleibt die neue Farbe der Innenstadt auch in Emder Friseur-Salons. Schon am Mittwoch, als die erste Farbe noch ganz frisch war, wurde die Chefin des Salons Haarig, Doris Frericks, überhäuft von Fragen ihrer Kundinnen und Kunden. Hilfesuchend und leicht genervt wandte sie sich an einen befreundeten Redakteur dieser Zeitung und und bat um eine Antwort auf die Frage, warum um Himmels willen die Neutorstraße blau angemalt wird.

Apropos Friseur: Vielleicht wird die neue Farbgebung der Innenstadt-Achse auch zum Trend für Haarfarben. Denn wie man an der Neutorstraße sieht: In Emden ist vieles möglich - und einen Versuch ist es allemal wert!

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