200 Jahre Landdrostei Aurich Als Hannover über Ostfriesland herrschte

Werner Jürgens
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Von Werner Jürgens
| 06.05.2023 14:07 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 8 Minuten
König Georg V. von Hannover kam bis 1865 regelmäßig nach Ostfriesland. Das Porträt stammt von Conrad L’Allemand. Quelle: Wikimedia Commons
König Georg V. von Hannover kam bis 1865 regelmäßig nach Ostfriesland. Das Porträt stammt von Conrad L’Allemand. Quelle: Wikimedia Commons
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Nach dem Wiener Kongress waren die Hannoveraner um eine behutsame Machtübernahme bemüht. Doch es knirschte mächtig in der Beziehung.

Aurich - Das war ein munteres Wechselspiel, das Ostfriesland zu Beginn des 19. Jahrhunderts innerhalb von nur zehn Jahren erlebte: Zunächst gehörte das einstige Fürstentum zu Preußen, danach zu Holland und Frankreich, dann wieder zu Preußen, bis es auf dem Wiener Kongress 1815 dem Königreich Hannover zugesprochen wurde.

Erst diese Verbindung sollte etwas länger halten, wenngleich viele ostfriesische Untertanen keinen Hehl daraus machten, dass ihnen ein preußischer Landesherr lieber gewesen wäre. 1823 organisierte Hannover seine Verwaltung neu und schuf sechs Landdrosteien. Eine davon war die für Ostfriesland zuständige Landdrostei Aurich. Das Verhältnis zur neuen Obrigkeit blieb trotzdem angespannt.

Streit um die Mitbestimmung

Dabei waren die Hannoveraner anfangs um eine behutsame Machtübernahme bemüht und beließen nach Ende des Wiener Kongresses erst einmal alles beim Alten. Sie gründeten eine „Besitznahmekommission“, die die amtlichen Verhältnisse prüfen sollte. 1817 entstand eine Provinzialregierung, die ihren Sitz in Aurich hatte und ab 1818 von Hans Burchard von der Decken als Präsident geleitet wurde. Der gelernte Jurist hatte zuvor unter anderem von 1807 bis 1811 in Oldenburg für den abwesenden Herzog dessen Verwaltung geführt. Er galt als versierter Verhandlungspartner und musste in seinem neuen Job auch prompt sein diplomatisches Geschick unter Beweis stellen.

Die ostfriesischen Stände pochten auf die Wiederherstellung der ihnen unter preußischer Herrschaft gewährten Mitbestimmungsrechte. Die wollte ihnen Hannover plötzlich nicht mehr gewähren, obwohl Artikel 27 der Schlussakte des Wiener Kongresses klar besagte: „Die Stände des Fürstentums werden ihre Rechte und Privilegien behalten.“ Das machte die Aufgabe für die zukünftigen Landdroste nicht unbedingt leichter. Da von der Decken ein stets um Ausgleich bemühter Mensch war, konnte er sich allerdings einen gewissen Respekt verschaffen. Als er im Zuge der Neuordnung der Verwaltung 1823 nach Lüneburg berufen wurde und ihm in Aurich ausgerechnet ein Katholik aus Osnabrück nachfolgen sollte, baten die Ostfriesen sogar inständig um eine Rückversetzung des Vorgängers.

Sturmflut als Bewährungsprobe

Hannover lenkte zumindest ein bisschen ein und schickte einen gebürtigen Preußen und Lutheraner, der aber bereits nach einjähriger Amtsführung verstarb. Nächster Auricher Landdrost wurde Ende 1824 Johann Casper von der Wisch, der umgehend gefordert war, als im Februar 1825 eine gewaltige Sturmflut die ostfriesische Küste verwüstete. Er musste Hilfe organisieren, die Schäden bewerten und finanzielle Unterstützung anfordern.

Ein offizielles Bildnis von Georg V., König von Hannover, mit seiner Frau Marie von Sachsen-Altenburg und den Kindern Kronprinz Ernst August, Prinzessin Friederike und Prinzessin Marie nach dem Regierungsantritt am 18. November 1851. Der Künstler: Conrad L’Allemand. Quelle: Wikimedia Commons
Ein offizielles Bildnis von Georg V., König von Hannover, mit seiner Frau Marie von Sachsen-Altenburg und den Kindern Kronprinz Ernst August, Prinzessin Friederike und Prinzessin Marie nach dem Regierungsantritt am 18. November 1851. Der Künstler: Conrad L’Allemand. Quelle: Wikimedia Commons

Angesichts des kleinen Verwaltungsapparates und der Zusammenarbeit mit den Hannover gegenüber nicht unbedingt wohlgesonnen eingestellten Deichachten bedeutete dies eine echte Herausforderung, die Johann Casper von der Wisch jedoch überzeugend meisterte. Später kehrte er zurück nach Hannover, wo er bis zum Minister aufsteigen sollte. Als Karrierestufe der höheren Beamtenlaufbahn blieb die Position des Landdrosten eigentlich Adeligen vorbehalten. Eine der wenigen Ausnahmen war Georg Oehlrich, der 1831 für die Stelle in Aurich vereidigt wurde und einen bürgerlichen Hintergrund hatte. Er galt als „milder Opponent der Regierung“ und entsprach damit durchaus dem damaligen Zeitgeist.

Wunschkandidaten wurden ignoriert

Auch Hannover versuchte nun etwas demokratischer zu agieren und den Geschehnissen rund um die französische Julirevolution von 1830 mit sanften Reformansätzen Rechnung zu tragen. Die liberale Phase währte indes nicht allzu lange. 1838 musste Oehlrich seinen Hut nehmen und einem standesgemäßeren Vertreter weichen. Doch auch Anton Friedrich Christian von Wersebes Auricher Amtszeit war nur kurz und wurde überschattet von einer schweren Krankheit, an deren Folgen er 1841 verstarb.

Nachdem die Hannoveraner abermals einen Wunschkandidaten der ostfriesischen Stände ignoriert hatten, sandten sie den Freiherrn Carl Detlev Marschalck von Bachtenbrock. Obwohl der stolze 16 Dienstjahre als Landdrost in Ostfriesland verbringen sollte, ist – abgesehen von seinen Unterschriften auf zahllosen Dokumenten – nicht sehr viel über seine Aktivitäten als Beamter in Aurich bekannt. Die politischen Auseinandersetzungen, die 1846 in eine neue Verfassung mündeten und den Ständen wieder Mitspracherechte verschafften, fanden nach außen hin ohne Beteiligung des Freiherrn statt.

Unruhen drohten auch in Ostfriesland

Das zarte Aufbegehren, das die Revolution von 1848 in Ostfriesland hervorrief, wertete Carl Detlev Marschalck von Bachtenbrock als nicht weiter dramatisch. Ein amtliches Einschreiten sei aus seiner Sicht nicht erforderlich, vermeldete der Landdrost nach Hannover. Manche Historiker sind der Ansicht, dass er dadurch größere Unruhen verhindert hat. Eine andere mögliche Lesart wäre, dass Marschalck von Bachtenbrock einfach bloß zu bequem war. Diverse Kollegen, darunter der Innenminister des Königreichs Hannover, warfen ihrem Repräsentanten in Ostfriesland nämlich mangelnde Führungskompetenz vor. Der oberste Dienstherr sah das ähnlich und zog irgendwann die Konsequenzen. „Da der Landdrost zu Aurich von Marschalck bei den letzten Wahlen zur Allgemeinen Ständeversammlung sich . . . teilnahmslos, untätig und fahrlässig bewiesen, so will Ich, daß derselbe seiner Stelle als Landdrost enthoben werde“, diktierte Georg V. 1857 seinem Sekretär und berief mit Georg Heinrich Bacmeister einen engen Vertrauten der Königsfamilie nach Ostfriesland.

Der hatte schon für den Vater Ernst August I. dessen Testament aufgesetzt und war in Hannover Kultus- und Finanzminister, bevor er nach einer Zwischenstation als Amtmann in Lehe seine Stelle als Landdrost in Aurich antrat. Sonderlich glücklich sollte er auf diesem Posten nicht werden. Die Ostfriesen taten sich nach wie vor schwer mit Neuerungen. Beispielsweise scheiterte ein Reformversuch der Armenversorgung am Widerstand der Landschaftsversammlung. Zudem hatte Bacmeister zu selten ein offenes Ohr für die Wünsche und Belange, die von ostfriesischer Seite an ihn herangetragen wurden. 1865 wurde er nach Hannover zurückbeordert und zum Innenminister ernannte. Sein Nachfolger war Dr. Carl Friedrich Nieper, der, kaum im Amt, bereits im Juni 1866 von einrückenden preußischen Truppen verhaftet und abgesetzt wurde. Nach der Annektierung des Königreichs Hannover gehörte Ostfriesland wieder zu Preußen. Die alte Verwaltungsstruktur sollte noch bis 1885 Bestand haben, um dann vom Regierungsbezirk Aurich und den Landkreisen abgelöst zu werden.

Viele Ostfriesen suchten das Weite

Die Landdrosteien unterstanden dem Innenministerium und konnten mit dessen Zustimmung von deren Ministerien Weisungen erhalten. Vorwiegend kümmerten sie sich um die Kontrolle der inneren Verwaltung. Ab 1841 beaufsichtigten sie zudem den Straßen- und Wegebau sowie bis 1823 und ab 1873 die Wasserbaubehörden. Der Landdrost war Vertrauensperson und Repräsentant seines Landesherren, vor Ort jedoch „erster unter Seinesgleichen“. Neben ihm hatten seine Räte und in einigen Fällen auch Fachleute gleiches Stimmrecht. In der Regel wurde alle wichtigen Angelegenheiten gemeinsam beraten und beschlossen. Entsprechend zäh und langwierig gestaltete sich manche Entscheidungsfindung. Dies mag ein Grund gewesen sein, warum es in und mit Ostfriesland während der Hannoveraner Zeit wirtschaftlich nicht wirklich voranging. Zu den Haupterwerbszweigen gehörten nach wie vor Viehzucht, Ackerbau und Fischfang sowie in den Moorgebieten die Torfgewinnung. Der Seehandel in den Häfen von Leer und Emden bewegte sich nicht zuletzt wegen mehrerer Agrarkrisen auf einem niedrigen Niveau.

Das Auricher Schloss wurde in den 1850er Jahren erbaut. Foto: Jürgens
Das Auricher Schloss wurde in den 1850er Jahren erbaut. Foto: Jürgens

Abgesehen von zwei Dampfmaschinen betriebenen Papierfabriken um 1846 in Aurich und ab 1867 in Emden sowie einem 1861 in Emden eröffneten Gaswerk war von den technischen Umwälzungen der industriellen Revolution fast nichts zu spüren. Bis 1844 existierte in der Landdrostei Aurich eine einzige Chausseestraße, die über Oldenburg, Delmenhorst und Bremen nach Hannover führte. Erst ab 1848 gab es ähnlich vernünftig ausgebaute Verbindungen nach Norden, Emden, Leer und Wittmund sowie Jever und Papenburg. Vom Aufkommen der Eisenbahn profitierte lediglich der Südwesten der Region. 1854 wurde die Linie Emden-Leer-Papenburg eröffnet. 1856 erfolgte über die Verlängerung nach Lingen der Anschluss an die staatliche Westbahn. Angesichts der katastrophalen Infrastruktur und fehlender Jobperspektiven suchten viele Ostfriesen das Weite. Die Auswanderungswelle nach Amerika erreichte in den Jahren um 1850 einen vorläufigen Höhepunkt. Nichtsdestotrotz stieg die Zahl der Einwohner in der Landdrostei Aurich von 142.000 im Jahr 1823 bis 1865 auf 194.000. Das war ein Zuwachs von immerhin 37 Prozent.

Des Königs Spuren in Ostfriesland

Für König Georg V. gehörten Reisen nach Ostfriesland bis 1865 zum Pflichtprogramm, wobei es ihm ein Ort besonders angetan hatte: die Insel Norderney, die er selber gerne als „die Perle in meiner Krone“ bezeichnete. Da er schon in jungen Jahren nahezu blind war, konnte er das Meer nur hören und die gesunde Nordseeluft nur riechen. Außer dem obligatorischen Hofstaat folgten dem König etliche gut betuchte Bürger, die in seiner Nähe sein wollten. Davon profitierte der ostfriesische Fremdenverkehr generell. Wer bescheidenere Quartiere als jene rund um das teure Königsbad suchte, konnte auf die anderen Inseln oder die Küstenregion ausweichen. Markante bauliche Veränderungen auf Norderney wären ohne die Anwesenheit des Königs vermutlich nie in solchem Ausmaß realisiert worden.

Auch das Auricher Stadtbild hat die Hannoveraner Zeit nachhaltig geprägt. Als das Schloss saniert werden sollte, entpuppten sich die alten Gemäuer als dermaßen marode, dass „es nicht zu begreifen ist, wie ein Einsturz des Gebäudes bis jetzt nicht erfolgt ist“, so der zuständige Landbaurat in einem Brief vom Mai 1851 an den König. „Ferner hat sich auch jetzt der südwestliche Turm so schadhaft gezeigt, dass das obere Mauerwerk schon 20 Fuß hat abgenommen werden müssen, und [es] ist zu befürchten, dass hier noch mehr abgebrochen werden muss.“

Letztendlich blieben tatsächlich bloß die Fundamente und ein paar Grundmauern erhalten. Drumherum entstand innerhalb von rund fünf Jahren ein in sechs zum Teil parallel laufenden Abschnitten errichteter Neubau, in dem sich heute das Auricher Landgericht und das Niedersächsische Landesamt für Bezüge und Versorgung befinden.

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