Von den Nazis ermordet Maurice Windmüller – versteckt und mit 19 Monaten deportiert

| | 07.10.2023 17:33 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Eines der wenigen Fotos von Maurice Windmüller zeigt ihn bei der Familie Weersing. Foto: privat
Eines der wenigen Fotos von Maurice Windmüller zeigt ihn bei der Familie Weersing. Foto: privat
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Maurice Windmüller wurde im Alter von 19 Monaten von den Nazis in Auschwitz umgebracht. Erst mehr als 80 Jahre später wird klar, was dem Baby in seinem kurzen Leben alles widerfahren ist. Teil 2.

Emden/Niederlande - Dies ist die Geschichte von Maurice Windmüller, geboren am 14. Juli 1942 in Groningen. April 1943: Fotos zeigen ihn als Baby bei der Familie Weersing in Groningen. Hier wurde er wohl vor den Nationalsozialisten in den besetzten Niederlanden versteckt. Nur ein paar Wochen oder auch nur Tage nach den Aufnahmen ist Maurice bereits im Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden.

Warum wir berichten

Bereits im Juni reisten Schülerinnen und Schüler des Max-Windmüller-Gymnasiums Emden zusammen mit Arie Windmüller, Neffe von Max Windmüller, in die Niederlande. Das gemeinsame Ziel: Mehr über Maurice erfahren. Denn erst im vergangenen Jahr und bis heute wurde klar: Was man über Maurices kurzes Leben zu wissen glaubte, stimmt nicht. Maurice überlebte seine Eltern, bevor er selbst von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde.

Arie Windmüller sah bei der Reise mit den Schülerinnen und Schülern aus Emden zum ersten Mal Bilder von Maurice aus dem Jahr 1943. Also aus einer Zeit, in der Maurice bisher bereits als tot galt.

Doch nicht nur die neuen Erkenntnisse machen Maurices Geschichte zu einer besonderen. Maurice wurde geliebt und beschützt. Nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Fremden. Es gab Rettungsversuche, es gab Verrat – und es gibt bis heute viele Unklarheiten und Ungereimtheiten. Was bekannt ist und was nicht, das wollen wir in einer kleinen Artikel-Reihe darstellen. Am 11. Oktober sollte für Maurice ein Stolperstein in Emden verlegt werden. Die Verlegung wurde aufgrund des Angriffes von Hamas und Hisbollah auf Israel auf unbestimmte Zeit verschoben. Viele Verwandte von Maurice, die aus Israel anreisen wollten, können das Land aktuell nicht verlassen.

Seit einigen Monaten gibt es neue Erkenntnisse zum Leben von Maurice Windmüller, einem Verwandten von Max Windmüller. Diese Zeitung hat Schülerinnen und Schüler des Max-Windmüller-Gymnasiums in Emden bei einer Reise in die Niederlande begleitet. Wir erzählen die Geschichte von Maurice, die geprägt ist von Unklarheiten und Episoden der Hoffnung inmitten der Greuel der NS-Zeit.

Buchrecherchen werfen neues Licht auf Maurices Leben

Maurice war keine vier Monate alt, als er versteckt wurde. Zuflucht fand er entweder direkt im November 1942 - als seine Eltern deportiert wurden - oder erst später bei der Familie Weersing in Groningen. Wie der Historiker Ron van Hasselt in seinem Buch „Uitgesloten“ (deutsch: Ausgeschlossen) herausgefunden hat, ist nicht nur unbekannt, wie Maurice zu der Familie gekommen ist. Vielmehr ist auch unklar, warum Maurice sein Versteck verlassen musste und am 29. April 1943 ins Durchgangslager Westerbork gebracht wurde. Wir fassen die Ergebnisse der Recherchen von van Hasselt und des Max-Windmüller-Gymnasiums zusammen.

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Wie war der kleine Maurice Windmüller?
05.10.2023

Widersprüchliche Geschichten

Die Familie Weersing war nicht jüdischen Glaubens, sie waren Christen. „Bekannte von Bekannten“ sollen Leo Weersing und seine Frau damals gefragt haben, ob sie ein Baby aufnehmen könnten. Wann das war und wie lange sich vielleicht noch andere Menschen um Maurice gekümmert haben, ist bisher nicht nachvollziehbar.

Seit Juli 1941 wurden niederländische oder sich in den Niederlanden aufhaltende Juden systematisch ins Durchgangslager Westerbork deportiert. Von Westerbork aus soll Ruth Windmüller-Kornblum, Maurices Mutter, 1943 Kontakt mit der Familie Weersing aufgenommen haben. So erzählte man es sich über Jahrzehnte in der Familie. Ruth wolle ihr Kind wiedersehen, Maurice wieder bei sich haben.

Doch zu diesem Zeitpunkt war Ruth bereits in Auschwitz ermordet worden. Ruth und ihr Mann Salomon waren nur 18 Tage in Westerbork, bevor sie am 30. November 1942 nach Auschwitz deportiert wurden.

Die Erzählungen, die in der Familie Weersing überliefert sind, sind aber auch noch in anderen Details widersprüchlich. So soll die Schwester von Leo Weersing den kleinen Maurice im März 1943 zum Polizeirevier am Martini-Friedhof gebracht haben. „Dort stand ein Bus, um Bewohner von Beth Zekenim, das Altenheim bei Schoolholm, nach Westerbork zu transportieren. Einem von diesen Bewohnern hat sie Maurice mitgegeben (mit einem Fläschchen Milch für unterwegs). Diese Person hat sich um ihn gekümmert“, schreibt van Hasselt. Doch auch das kann nicht stimmen: Maurice wurde erst am 29. April 1943 in Westerbork registriert. Die letzten Bewohner von Beth Zekenim, dem jüdischen Altersheim in Groningen, wurden am 9. März 1943 nach Westerbork transportiert und in den folgenden Tagen im Lager registriert.

Nur Vermutungen, keine Antworten

Wie also kam Maurice nach Westerbork? Warum musste er sein Versteck verlassen? Antworten darauf gibt es keine. Es gibt nur Vermutungen. Wurde Maurice verraten? Immerhin dürfte auch den Nachbarn der Weersings nicht entgangen sein, dass es plötzlich – ohne vorangegangene Schwangerschaft – „Nachwuchs“ im Haus gab.

Die Familie Weersing, das zeigen nicht zuletzt die Fotos, hat offenbar kein großes Geheimnis aus dem „Nachwuchs“ gemacht. Wie Erik Weersing im Gespräch erklärt, ist davon auszugehen, dass die Nachbarn recht genau wussten, warum da plötzlich ein Baby war. Es wäre aber auch möglich, so eine Theorie, dass die gemachten Fotos die Behörden auf das Baby aufmerksam gemacht haben – sei es durch den Fotografen, durch den Entwickler oder andere Personen.

29. April 1943: Die penible Buchführung im Durchgangslager Westerbork registriert Maurice als „Maurits“ Windmüller. Maurice ist noch kein Jahr alt. In Westerbork wird er unter anderem von Clara Asscher-Pinkhof betreut – und sie versucht ihn auch zu retten. Darum geht es im nächsten Teil dieser Artikel-Reihe.

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