Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Hamburg, New York, Großefehn – dieses Paar machte seinen Weg

| | 04.11.2023 10:07 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Das Ehepaar Helene und Harm Buß verbrachte zunächst ab 1900 gemeinsam etwa fünf Jahre in New York, von wo aus der Kapitän oft gen Südamerika fuhr. Später lebten sie gemeinsam in Westgroßefehn. Foto: Archiv/Buss
Das Ehepaar Helene und Harm Buß verbrachte zunächst ab 1900 gemeinsam etwa fünf Jahre in New York, von wo aus der Kapitän oft gen Südamerika fuhr. Später lebten sie gemeinsam in Westgroßefehn. Foto: Archiv/Buss
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Erst armer Schiffsjunge, dann Kapitän und später Bürgermeister: Harm Buß legte an der Seite seiner Frau Helene eine beispiellose Karriere hin. Sie brachte später kanadische Truppen zum Staunen.

Westgroßefehn - Versonnen blättert Kerstin Buss in den dicken, mehr als 100 Jahre alten großformatigen Schiffsjournalen. Die Bibliothek in ihrem Haus in Westgroßefehn gleicht einem Museum. „Kapitäne hatten ein Logbuch und ein Frachtbuch“, erklärt die Geschichtsinteressierte. „Es wurde alles sehr sorgfältig dokumentiert. Alles wurde notiert und berechnet.“ Sie leitet das Fehnmuseum „Eiland“ in Westgroßefehn – und auch ihr eigenes Heim steckt voller „Fehntjer Geschichte(n)“. Geschichten aus der Familie ihres verstorbenen Mannes Dr. Harm Buss. Die Familie lebt in neunter Generation auf Westgroßefehn. „Mein Mann schrieb die Geschichten nie auf“, bedauert Buss. Sie kenne sie dennoch recht gut: „Er erzählte sie gerne und oft in Gesellschaft.“ Kerstin Buss hat Freude daran, solche Erzählungen lebendig zu halten. Dafür schlüpft sie teilweise auch in verschiedene Rollen wie die von „Frau Captain Buß“, der Großmutter ihres Mannes. „Um Geschichte auf unterhaltsame Weise unter die Leute zu bringen“, sagt sie selbst über die inszenierten Vorträge und Führungen.

Was und warum

Darum geht es: Harm Andreesen Buß und seine Frau Helene verließen um 1900 Westgroßefehn in Richtung New York, um ihr Glück zu machen. Das Powerpaar trug innerhalb weniger Jahre genug Geld zusammen, um sich entspannt in Westgroßefehn niederlassen zu können.

Vor allem interessant für: Fehntjer und regionalgeschichtlich Begeisterte

Deshalb berichten wir: Im Rahmen der Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ wirft die Redaktion Schlaglichter auf Besonderheiten in der Geschichte Großefehns. Es sind Ereignisse, die die 14 Ortschaften und die in ihnen lebenden Menschen zu dem gemacht haben, was sie heute sind.

Die Autorin erreichen Sie unter: s.ullrich@zgo.de

Im Jahr 1898 heiratete der Westgroßefehntjer Harm Andreesen Buß die als Helene Kronenberg geborene junge Frau aus Elmshorn. In Hamburg war sie auf den jungen Kapitän aus Ostfriesland getroffen, der im Auftrag einer Reederei der Hansestadt zur See fuhr. Wenig später kam ihr Sohn Andreas zur Welt. 1901 folgte Helene Buß ihrem Mann mit dem nur sechs Monate alten Kind nach New York. Von dort aus war ihr Mann als Kapitän des Frachtdampfers „Bellagio“ im Auftrag der Reederei Slomann regelmäßig gen Südamerika unterwegs. Buß war selbst für das Finden seiner Fracht verantwortlich – und wurde am Gewinn beteiligt. Binnen kurzer Zeit gelang es ihm, viel Geld einzunehmen. „Er hat in sechs Jahren ein großes Vermögen verdient“, weiß Kerstin Buss zu berichten. Genug, um sich kurz darauf in Westgroßefehn zur Ruhe setzen zu können. Von dem Vermögen blieb nach dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden Inflation allerdings nichts übrig.

Die goldenen Jahre der Segelschiffe waren vorbei

Kerstin Buss hat im Laufe der Jahre anhand von Erzählungen und Aufzeichnungen wie den Logbüchern rekonstruiert, wohin die „Bellagio“ Harm Buß in den Jahren vor seinem Ruhestand brachte. Die beeindruckend akkurat geführten Bestandslisten über Ladungen, Wetter und Kohlenverbrauch geben spannende Einblicke in den damaligen Alltag auf hoher See. Der Dampferkapitän hatte im Jahr 1865 in Westgroßefehn das Licht der Welt erblickt. Seine Familie war nicht sonderlich wohlhabend. Wie zur damaligen Zeit üblich besuchte Buß acht Jahre lang die Volksschule. 1879 begann er im Alter von nur 14 Jahren eine seemännische Laufbahn. Die hätte fast ein abruptes Ende gefunden, bevor sie wirklich begann: 1881 strandete die Schonerbrigg „Germania“, an deren Bord er gegangen war, an der afrikanischen Küste. Buß kam auf einem anderen Schiff unter: An Bord des Schoners „Antje“ bereiste er als Matrose zunächst das Mittelmeer. Anschließend ging es für ihn mit der „Susanne“ erstmals nach New York, wo später vorübergehend sein Lebensmittelpunkt sein sollte. So schrieb es Harm Buß selbst in dem Lebenslauf, den er in der Navigationsschule in Timmel verfasste.

Kerstin Buss lässt Geschichte lebendig werden, indem sie für inszenierte Vorträge und Führungen in Rollen wie die von Helene Buß schlüpft. Foto: Ullrich
Kerstin Buss lässt Geschichte lebendig werden, indem sie für inszenierte Vorträge und Führungen in Rollen wie die von Helene Buß schlüpft. Foto: Ullrich

Dem erfolgreichen Besuch dort folgten ein Intermezzo bei der Kaiserlichen Marine und der Erwerb des Kapitänspatents. 1900 übernahm Harm Buß dann in Hamburg die Verantwortung für den Dampfer „Bellagio“. Die Segelschifffahrt hatte da ihre goldenen Zeiten bereits hinter sich. Buß erwies sich offenbar als fleißiger und pfiffiger Kapitän: Auf der Linie von New York nach Südamerika war er ständig unterwegs, steuerte Häfen wie die von Barbados, Bahia oder Santos an. Tage oder Wochen war die Mannschaft unterwegs von einem Hafen zum anderen. Zwischendurch lief der Dampfer immer wieder New York an, wo die kleine Familie des Fehntjer Kapitäns im deutschen Quartier in Stadtteil Brooklyn auf ihn wartete.

Helene Buß stellte sich kanadischen Soldaten entgegen

Bei der Rückkehr des Paares nach Deutschland im Jahr 1905 war sein Sohn Andreas bereits fünf Jahre alt. Die Reederei verkaufte die „Bellagio“; Harm Buß setzte sich im Alter von nur 40 Jahren zur Ruhe. Gemeinsam mit Frau und Kind kehrte er nach Westgroßefehn zurück, wo er sein Elternhaus aus dem Baujahr 1740 abreißen ließ. An gleicher Stelle entstand ein prachtvoller Gulfhof. Einige der Steine und Baumaterialien wurden wiederverwendet. Keine Seltenheit auf dem Fehn, sagt die Museumsleiterin: „Die Häuser sind mehrmals abgerissen und aufgebaut worden.“ Zusätzlich habe das Paar weiteres Land erworben. Die Großeltern ihres Mannes hätten fortan als Selbstversorger und von den Zinsen ihres Vermögens gelebt.

Das Foto zeigt Helene Buß (vorne rechts) mit ihrem Sohn Andreas an der Hand auf der Rückfahrt von New York 1905 an Bord eines Segelschiffs. Foto: Archiv/Buss
Das Foto zeigt Helene Buß (vorne rechts) mit ihrem Sohn Andreas an der Hand auf der Rückfahrt von New York 1905 an Bord eines Segelschiffs. Foto: Archiv/Buss

Untätig aber blieb Harm Buß nicht. Der frühere Kapitän wurde 1913 zum Bürgermeister von Westgroßefehn gewählt. Erst kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1934 wurde er abgesetzt. Harm Buß starb 1936. Seine Frau Helene hingegen erlebte das Kriegsende: 1945 rückten kanadische Soldaten bis nach Westgroßefehn vor – und staunten, als sich ihnen dort eine weltgewandte Helene Buß entgegenstellte, erzählt Kerstin Buss. „Die fielen aus allen Wolken. Hier auf dem platten Land stand eine Frau, die sprach fließend Englisch.“ Im New Yorker Akzent erklärte sie den kanadischen Offizieren, dass diese ihr Haus nicht einnehmen könnten. Als eines der größten Gebäude im Umkreis hatten die Kanadier vorgehabt, es zu beschlagnahmen. „Sie sagte: Das geht nicht.“ Und sie hatte dafür gute Gründe, die offenbar überzeugten: Viele Menschen hätten zu diesem Zeitpunkt bereits Zuflucht im imposanten Haus des verstorbenen Bürgermeisters gefunden. Helene Buß kam damit durch. Die Soldaten machten einen Bogen um ihr Heim.

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