Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Auswandern nach Amerika – Ostfriesen wagten den Neuanfang

| | 03.02.2024 17:11 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Im Verlauf der Jahre schlossen sich immer wieder Ostfriesen zusammen, um die Reise nach Übersee anzutreten. Im Tumult am Hafen, hier Hamburg, wurde oft gestohlen und betrogen. Gemeinsam ließ sich vieles besser angehen. Hier gehen Deutsche an Bord eines Dampfers, der Kurs auf New York nimmt. Foto: English Wikipedia
Im Verlauf der Jahre schlossen sich immer wieder Ostfriesen zusammen, um die Reise nach Übersee anzutreten. Im Tumult am Hafen, hier Hamburg, wurde oft gestohlen und betrogen. Gemeinsam ließ sich vieles besser angehen. Hier gehen Deutsche an Bord eines Dampfers, der Kurs auf New York nimmt. Foto: English Wikipedia
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Um 1900 wanderten geschätzte 50.000 Ostfriesen nach Amerika aus, darunter viele Fehntjer. Auch in der Fremde hielten sie zusammen und unterstützten sich – nicht selten in „Neu-Ostfriesland“.

Großefehn - Verheißungsvoll war die Zukunft in Amerika wohl für viele Fehntjer in den Jahren ab 1847/48. In der neuen Welt gab es dem Vernehmen nach billiges Land im Überfluss. Mit diesem Versprechen lockten auch die, die den Schritt ins Ungewisse bereits gewagt hatten, in ihren Briefen an ihre Verwandten in den Heimatdörfern. Nicht wenige folgten ihrem Vorbild. Denn in Ostfriesland waren die Zeiten schwer, geprägt von Fluten, Hunger und Krieg: „Es war eine sehr unruhige und schlechte wirtschaftliche Lage“, erläutert Jürgen Hoogstraat. „Die 1840er waren Katastrophenjahre.“ Von 1847 bis 1899 wanderten darum auch geschätzte 50.000 Ostfriesen aus. „Vom Baby bis zur Großmutter“ war alles dabei, sagt er.

Jürgen Hoogstraat ist Pastor in Victorbur und Kenner der Kirchen- und Auswanderergeschichte Ostfrieslands. Foto: Ullrich
Jürgen Hoogstraat ist Pastor in Victorbur und Kenner der Kirchen- und Auswanderergeschichte Ostfrieslands. Foto: Ullrich

Der 62-Jährige ist Pastor der evangelisch-lutherischen St.-Victor-Kirchengemeinde Victorbur und Kenner der Regionalgeschichte. „Mein Hobby ist eigentlich ostfriesische Kirchengeschichte“, relativiert er in einem Gespräch mit der Redaktion. Aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte aber hat er sich auch intensiv mit der Geschichte der Auswanderer befasst, die in den Jahren vor und nach 1900 ihr Glück in der Ferne suchten. Unter ihnen waren seine Vorfahren. Nach dem Abitur war Hoogstraat erstmals auf Familienbesuch in den Vereinigten Staaten. Viele weitere sollten folgen, dazu Reisen an Orte, an denen sich andere Ostfriesen Jahrzehnte zuvor niedergelassen hatten.

Ostfriesen auf der Such nach ihren Wurzeln

Der Pastor schloss sich im Zuge seiner Recherchen der „Ostfriesen Genealogical Society of America“ (OGSA) an, die ihren Mitgliedern seit mehr als 25 Jahren dabei helfen möchte, familiäre Verbindungen nach Deutschland zu finden und ihre Wurzeln in Ostfriesland besser zu verstehen. „Das Pendant ist die Upstalsboom-Gesellschaft.“ Der Ostfriese referiert auf Tagungen der Amerikaner und publiziert seine Rechercheergebnisse sowohl in den USA als auch in Deutschland. So erschien mit „Von Ostfriesland nach Amerika. Aus dem Leben ostfriesischer Auswanderer im 19. Jahrhundert“ eine der wenigen Lektüren zu diesem Thema. Hoogstraat und seine Frau, die Pastorin Andrea Düring-Hoogstraat, besuchten im Verlauf der Jahre mehrere Kirchengemeinden, hielten bei diesen Reisen sogar zweisprachige Gottesdienste ab. Gemeinsam predigten sie auf plattdeutscher und englischer Sprache.

Die OGSA ist heute ein wichtiges Bindeglied von Ostfriesland nach Übersee. Beispielsweise organisierte Lin Strong, deren Vorfahren aus der Krummhörn stammen, in den zurückliegenden Jahren Reisen zu den familiären Wurzeln der Amerikaner. In Ostfriesland kümmerte sich Lisa Buß aus Großefehn, wie Hoogstraat Mitglied der OGSA, um die Gäste. 2005 kam erstmals eine Reisegruppe zwecks „Homecoming“ (Heimkehr) nach Ostfriesland. 130 Personen begaben sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln, erinnert sich Buß, die sich thematisch ebenfalls viel mit Auswanderung beschäftigt.

Kinder und Alte starben nicht selten bei der Überfahrt

Heute ist es ein leichtes, den Atlantik zu überqueren. Doch um 1900, als die meisten Auswanderer sich auf den Weg machten, war die Reise lang und beschwerlich. Warum sie sich dennoch auf den Weg machten, lässt sich wohl am besten mit dem Wunsch nach einem besseren Leben zusammenfassen: 1815 waren die Ostfriesen unter die Herrschaft des Königreiches Hannover gewechselt. Die neue Obrigkeit stellte viele Regeln auf, die den freiheitsliebenden Ostfriesen missfielen – und sie führte Krieg. „Die größten Auswandererjahre sind 1866 bis 1868. Da sind massenhaft Leute weggegangen.“ Viele flüchteten aus Angst vor dem drohenden Militärdienst. Schlechte Lebensbedingungen, Hunger und Armut taten ihr Übriges. Auf dem Fehn galt dies beispielsweise für Holtrop – hingegen nicht so sehr da, wo auf den Kanälen die Schifffahrt prosperierte, relativiert Hoogstraat.

Diese Zeichnung von Leo von Elliot zeigt deutsche Auswanderer auf dem Weg in die USA über Rotterdam und Le Havre auf dem Schiff „Samuel Hop“ im April 1849. Foto: Bundesarchiv via Wiki Commons
Diese Zeichnung von Leo von Elliot zeigt deutsche Auswanderer auf dem Weg in die USA über Rotterdam und Le Havre auf dem Schiff „Samuel Hop“ im April 1849. Foto: Bundesarchiv via Wiki Commons

Durchschnittlich sechs Wochen lang waren die Menschen unterwegs an Bord von Segelschiffen, fand Hoogstraat durch die Lektüre von Reisetagebüchern heraus. War ein Schiff besonders schnell, waren es vier Wochen. Andere brauchten zwei, sogar drei Monate. „Es gab die abenteuerlichsten Routen.“ So habe er in einer Aufzeichnung gelesen, das betreffende Schiff habe Kurs auf Cuba genommen. Zunächst starteten die Segler ab Brake oder Bremen, erst später wurde in Bremerhaven abgelegt. Mit einer Kreuzfahrt hatte diese Form des Reisens nichts gemein, weiß Hoogstraat.: „Es waren schwierige Bedingungen an Bord.“ Die Schiffer unterschieden damals scheinbar kaum zwischen Fracht und Auswanderer: „So wie sie sonst Heringsfässer oder Holz transportiert haben, haben sie jetzt Menschen transportiert.“

Eine gefährliche Reise

Die meisten Menschen mussten im Zwischendeck reisen, zusammengepfercht wie Vieh. Zu essen gab es Pökelfleisch und Zwieback, dazu Wasser – und was die Passagiere sonst noch mit an Bord gebracht hätten. Und die brachten alles mit, was sie nicht bereits verkauft hatten. Es muss erbärmlich gestunken haben, frische Luft gab es kaum. Nur selten durften die Menschen diesen Bereich verlassen. „Krankheiten sind ausgebrochen, Menschen gestorben“, erzählt der Pastor. Vor allem Kinder und Alte hätten die strapaziöse Reise oft nicht überlebt. In einem Tagebuch habe jemand über den Tod eines anderen geschrieben: „Als Opfer der Pestluft des Zwischendecks in See begraben.“

Aber auch Schiffsunglücke forderten zahlreiche Leben: Im November 1854 beispielsweise geriet die Dreimastbark „Johanne“ auf ihrer Jungfernfahrt von Bremerhaven nach Baltimore vor Spiekeroog in einen schweren Sturm, lief auf eine Sandbank auf und kenterte. Miriam Eberhard hat das Schicksal der 216 Passagiere an Bord sowie der Besatzungsmitglieder für das Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven anhand historischer Quellen aufgearbeitet: „Wasser strömt in den Schiffsraum und meterhohe Wellen schlagen über das Deck.“ Hilfe kam erst deutlich später. Immerhin konnten die Spiekerooger noch 139 Menschen vor dem sicheren Tod im Meer retten. Mindestens 77 Personen aber ertranken. Die Toten wurden auf dem „Drinkeldodenkarkhoff“ beigesetzt, dem Friedhof für die Ertrunkenen an der alten Inselkirche. Die Schiffsglocke ist noch heute im Inselmuseum zu sehen.

Die Ostfriesen hielten zusammen

Auf nahezu jeder Überfahrt starben Menschen. Während die ersten Ostfriesen meist nicht mittellos waren, kam nach und nach Bewegung in die Sache. Die ersten Siedler hatten in Ostfriesland alles verkauft und mit dem, was nach dem Bezahlen der Überfahrt nach Amerika übrig war, ihr neues Leben begonnen. Es zog sie in den Mittleren Westen, wo das Land noch billig war. Noch heute findet man dort viele deutschstämmige Amerikaner, weiß Hoogstraat aus seinen Recherchen: „Illinois, Iowa, Süd-Dakota, Nebraska, Kansas – das sind die Staaten, in denen die meisten Ostfriesen leben.“ Gleich mehrere größere Kolonien gründeten Ostfriesen zu jener Zeit. In mehreren Gegenden entstanden nach 1846 Kolonien, die zunächst nicht selten „Neu-Ostfriesland“ hießen.

Das Besondere dort: Wer es geschafft hatte und es sich leisten konnte, sorgte für den Zuzug weiterer Bewohner aus seiner Familie oder seinem Dorf. Es entstanden beispielsweise Konstrukte, bei denen die Überfahrt vorgestreckt und später abgearbeitet wurde. Ganze Reisegruppen schlossen sich in Dörfern zusammen, um sich auf der Überfahrt und in den Häfen besser schützen zu können. Der Zusammenhalt war groß. Die Kirche war in diesen neuen Kolonien – wie zuvor in Ostfriesland – der Mittelpunkt des spirituellen wie politischen Lebens. Und diese Kirche, verrät Pastor Jürgen Hoogstraat, wurde von den Auswanderern teilweise gestaltet wie die in ihrem Heimatdorf. Und ein bestimmtes Detail durfte ebenfalls nicht fehlen: „Auf der Kirche musste ein Schwan sein.“ Der ist ein Symbol für Martin Luther und ist oft anstelle eines Wetterhahnes auf der Kirchturmspitze zu finden. Er weist auf eine lutherische Gemeinde hin.

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