Was Sie heute wissen müssen Plattdeutsch ist „Wir“ | Diskussionen über Pazifismus | Not bei den Tafeln

Joachim Braun
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Eine Kolumne von Joachim Braun
| 01.08.2022 06:26 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
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Das Wichtigste aus der Region, jeden Morgen um 6.26 Uhr zusammengefasst von der Chefredaktion der Ostfriesen-Zeitung.

Oh, wie schade. Mit 1:2 verlor die deutsche Fußballnationalmannschaft gestern Abend das Finale der Frauen-Europameisterschaft gegen England. Ein großartiges Spiel, spannend bis zu Kellys Siegtreffer in der 111. Minute, Werbung für den Frauen-Fußball. Und ganz Deutschland fieberte mit. Die Revanche für Wembley 1966 bei den Männern missglückt, die Tore der Engländerinnen waren beide regulär. Eine kleine Unaufmerksamkeit gab den Ausschlag bei diesem großen Spiel auf Augenhöhe: „Football’s coming home“. Und Gary Linekers berühmter Spruch von 1990 ist nicht widerlegt: „Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ Schließlich traten hier 22 Frauen nach dem Ball.

Der Hype um die Fußballfrauen hatte sich über Wochen aufgebaut. Keine Fahnen in den Autofenstern, wie 2006 bei der Heim-WM, aber steigende Zuschauerzahlen im Fernsehen, auf den Sportseiten der Zeitungen rückte die EM auf Seite 1 vor, und viele Fußballfreunde staunten ob des hohen spielerischen Niveaus. Das alles wäre jäh verpufft, hätten Popp & Co. mit ihrer erfrischenden Spielweise nicht das Finale in Wembley erreicht. Es ging um Identifikation, um ein „Wir“. Ähnliches ist in Ostfriesland zu erleben mit der eigenen, der plattdeutschen Sprache. Über Jahrzehnte ging die Zahl der Sprecherinnen und Sprecher zurück, und trotzdem ist Platt ein wesentlicher Identitätsfaktor. Als Ina Müller vor wenigen Tagen im OZ-Wochenendmagazin behauptete, die Sprache werde künstlich am Leben erhalten, empörte sich nicht nur Platt-Aushängeschild Annie Heger. Auch andere Plattsprecher widersprechen, wie Nikola Nording bei ihrer Umfrage erfahren hat: von dem 20-jährigen Tido Specht bis zu Liedermacher Jan Cornelius.

Platt hat Zukunft in Ostfriesland, ebenso wie die Energiewende. Die Stadt Emden zum Beispiel geht aufgrund des staatlich verordneten Offshore-Booms von hunderten neuen Arbeitsplätzen in der Seehafenstadt aus. Schon jetzt siedeln sich am Flugplatz in Emden viele neue Unternehmen mit hoch qualifizierten Unternehmen an, und selbst das zwischenzeitig beerdigte Hafenprojekt Rysumer Nacken wird wieder aus der Schublade gezogen. Gordon Päschel zeigt auf, welche Perspektiven sich ergeben können.

Die Energiewende ist die Reaktion auf den Klimawandel, der andererseits eine Bedrohung für die Region darstellt, eine ganz spezielle, wenn man die steigenden Meeresspiegel betrachtet. Denn seit vielen Jahrhunderten ist die Nordsee nicht nur Lebensmotor für Ostfriesland, sondern auch die größte Gefahr. „Könnte auch Ostfriesland unbewohnbar werden?“, fragte Jens Schönig zum Beispiel Dr. Andreas Wurpts, Leiter der Forschungsstelle Küste im Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN), eine eindeutige Antwort: „Es ist aus heutiger Sicht schlicht kein Szenario vorstellbar, in dem so etwas passieren könnte.“

Zu den Bedrohungen für unsere Gesellschaft gehört auch Russlands Überfall auf die Ukraine. Dass Deutschland mit Waffenlieferungen die von persönlicher und gesellschaftlicher Auslöschung bedrohten Ukrainer unterstützt, erschüttert Erwin Wenzel aus Suurhusen in seinen Grundfesten. Als erklärter Pazifist befindet er sich in einem tiefen Dilemma zwischen der Überzeugung, dass Krieg kein politisches Mittel ist, und der Tatsache, dass Russland seine Großmacht-Fantasien mit militärischen Mitteln durchsetzen will. Um ein Zeichen zu setzen, ist der langjährige Kommunalpolitiker nach 58 Jahren aus der SPD ausgetreten. Ich habe mich vorige Woche mit ihm über seine Vorstellungen unterhalten. Und auch, wenn ich gänzlicher anderer Meinung bin als Wenzel, halte ich es für notwendig, dass seine Haltung ernst genommen wird, Öffentlichkeit bekommt und Stoff für Diskussionen bietet. Mein Text von der „Verzweiflung des Pazifisten Erwin Wenzel über Zeitenwende in der SPD“ wird auf unserer Webseite und auch in Mails an mich heftig diskutiert. Gut so!

Viele Menschen rührt die Not der Ukrainer ebenfalls an, sie haben in den vergangenen gut fünf Monaten gespendet, zum Beispiel an unser Hilfswerk „Ein Herz für Ostfriesland“. Inzwischen haben wir über 450.000 Euro erhalten, ein unschätzbarer Vertrauensbeweis unserer Leserinnen und Leser. Rund 250.000 Euro wurden inzwischen ausgezahlt. Wofür, darüber legt Uwe Boden, Geschäftsführer von „Ein Herz für Ostfriesland“, im Bericht von Rieke Heinig Rechenschaft ab. Und er äußert schon eine Idee, wer als Nächstes durch unser Hilfswerk unterstützt werden könnte: „Die hiesigen Tafeln bereiten uns große Bauchschmerzen. Dort fehlt es einfach an Spenden.“

Tatsächlich werden zurzeit auch bei den Tafeln in Ostfriesland die Lebensmittel knapp: Hohe Lebensmittelpreise und Inflation treiben die Armut auch bei Familien, die bisher mit ihrem Geld ausgekommen war, dazu kommen bedürftige Flüchtlinge aus der Ukraine. Stefanie Holle, Geschäftsführerin des Caritasverbands Ostfriesland schätzt, dass es in Emden etwa ein Drittel bis die Hälfte mehr Kunden als im Vorjahr gibt. In Emden und auch in Aurich haben die Tafeln aus der Not heraus einen Aufnahmestopp für neue Kunden verhängt. Was natürlich mehr als unbefriedigend für alle Beteiligten ist, ebenso wie, dass auch weniger Lebensmittel den Tafeln zur Verfügung gestellt werden. Julia Jacobs erläutert die gegenwärtige Situation.

Jahrzehnte lang haben wir gelernt: Größer und schöner ist besser. Stimmt aber nicht immer. Größer und schöner heißt bei Gemüse oft nur, stärker gedüngt. In einer Kooperation aus zwei großen Gemüse-Betrieben in Cappeln und Seevetal, der Universität Osnabrück, der Landwirtschaftskammer Niedersachsen in Oldenburg und des Supermarkt-Riesen Edeka soll nun herausgefunden werden, ob Supermarkt-Kunden auch kleinere, weniger gedüngte Kohlrabi, Brokkolis und Salatköpfe kaufen werden. Frei nach dem Motto „Kleineres Gemüse, weniger Dünger, großer Gewinn – für alle!“ Martin Teschke über das Projekt, an dem derzeit leider kein ostfriesischer Markt beteiligt ist. Ein Beitrag in der Serie „Unser Klima“.

Werfen wir doch zum Schluss noch einen Blick in die Vergangenheit. Automobile waren Anfang des vorherigen Jahrhunderts sehr exotisch in Ostfriesland. 1909 gab es gerade einmal 38 Autos und 131 Krafträder in der Region, wie das „Deutsche Automobil-Adreßbuch“ ausweist. Der Arzt Dr. Walter Trepte war der erste Autobesitzer in Rhauderfehn. Fußgänger sprangen von der Straße und riefen „der Leibhaftige kommt“, wenn Trepte mit seinem Einzylinder-Viertakt-Benziner von Carl Benz vorbeituckerte. Claus Hock hat sich das 112 Jahre alte Verzeichnis genauer angeschaut.

Wir haben mit Fußball begonnen, wir enden auch mit Fußball. Kickers Emden, Aufsteiger in die Regionalliga, hatte am Samstag einen schweren Start in die höhere Klasse. Trotz großen Kampfs, vor allem in Hälfte zwei, kassierte Kickers vor mehr als 1100 Zuschauern gegen den Vorjahres-Zweiten Weiche Flensburg eine 0:2-Heimniederlage. Mit beiden Toren in den ersten elf Minuten waren die Emder kalt erwischt worden, wie Matthias Herzog schreibt. Den Liveticker zum Nachlesen von Niklas Homes und den Videomitschnitt des Spiels gibt es hier.

Was heute wichtig wird:

  • Trotz Tempo 30 kracht es immer wieder an einer Kreuzung in Aurich-Oldendorf und Autos laden am Haus von Martin Kaminski, der deshalb einen Erste-Hilfe-Koffer im Hausflur stehen hat. Ole Cordsen berichtet.
  • Ein Leser hat sich darüber beschwert, dass die Homepage zur Erklärung der Grundsteuerreform benutzerunfreundlich ist. Gabriele Boschbach sah sich das genauer an. Wo gibt es Hilfe?
  • Ist da eine Werbeaktion nach hinten losgegangen? „Elotrans“, anzuwenden bei Durchfall oder Erbrechen ausgleichen soll, ist in Apotheken Mangelware. Claus Hock ist der Sache nachgegangen.
  • Die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza ist am Montag zu Besuch in der Jugendarrestanstalt in Emden. Mona Hanssen wird sie dorthin begleiten.
  • Spazieren auf der neuen Uferpromenade in Leer ist möglich, doch Restarbeiten sind noch zu erledigen. Diese dürften vor allem alle Skipper freuen, schreibt Michael Kierstein.
  • Hubertus Heil (SPD) war in Weener. Was bringt es Politikern im Wahlkampf, wenn sie kleinere Städte und Gemeinden besuchen? Das hat sich Rieke Heinig von einem Wahlkampfforscher erklären lassen.
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