Best of 2022 Was muss ich tun, wenn mein Auto im Kanal landet?

Jens Schönig
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Von Jens Schönig
| 05.07.2022 17:30 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Im Juli 2021 stürzte der Volvo in den Nordgeorgsfehnkanal. Foto: Archiv/Luppen
Im Juli 2021 stürzte der Volvo in den Nordgeorgsfehnkanal. Foto: Archiv/Luppen
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Ostfriesische Straßen führen oft dicht an Kanälen entlang? Nicht selten stürzen bei Unfällen Autos hinein. Wir wollten wissen, was dann zu tun ist.

Wenn ich von meiner Wohnung in Aurich zum Büro in Wiesmoor fahre, führt mich der Weg mehrere Kilometer dicht am Großefehnkanal entlang. Mitunter treten aus der Uferböschung auch schon mal Enten in völliger Missachtung der Straßenverkehrsordnung auf die Fahrbahn. So gehöre auch ich zu den Menschen, die regelmäßig dieses mulmige Gefühl beschleicht: Was, wenn ich jetzt von der Fahrbahn abkomme und da reinschlittere? Der Artikel über Enno Vieths Erlebnis war für mich in dieser Hinsicht ein Ratgeber in eigener Sache. Zudem konnte ich auch als Oldtimer-Fan mit Herrn Vieth mitfühlen.

Wiesmoor - Zu seinem 80. Geburtstag bekam Enno Vieth aus Wiesmoor im vergangenen Jahr gewissermaßen ein zweites Leben geschenkt. Sein Leben, so sagt er heute, habe damals von drei Sekunden abgehangen. Nach einem Autounfall war er aus dem Nordgeorgsfehnkanal gerettet worden.

Was soll an einem Kanal schon passieren?, denkt man sich als Autofahrer einerseits. Es geht doch kilometerweit schnurgerade voraus. Ein anderer Teil des Hirns malt sich allerdings auch oft den Albtraum aus, mit dem Auto unter Wasser zu geraten. Gerade weil auch Dinge passieren können, mit denen man so gar nicht rechnet.

Retter sprang ins Wasser

Vieth war damals, am Abend vor seinem Geburtstag, nach einer längeren Oldtimerfahrt auf dem Weg nach Hause auf der Oldenburger Straße. Zwischen Hinrichsfehn und Wiesmoor erlitt er plötzlich einen Linksschenkelblock, einen zwei Sekunden kurzen Aussetzer des Herzens, und kam von der Straße ab. Zwischen zwei Bäumen hindurch und über einen kleinen dritten Baum hinweg rutschte sein 50 Jahre alter Volvo P164 in den Kanal und sank unter Wasser. „Ich habe die Seitenscheibe noch heruntergekurbelt, bin aber beim Ausstieg mit der Hüfte stecken geblieben“, erinnert sich Vieth.

Seine Rettung verdankt er einem aufmerksamen Verkehrsteilnehmer, der sofort in den Kanal sprang und Vieths Körper drehte, um ihn aus der Tür zu ziehen. „Als er mich herauszog, rutschte das Auto ab auf den Grund des Kanals in 2,60 Meter Tiefe“, sagt Vieth. „Die Ärzte haben mir hinterher gesagt, dass ich drei Sekunden später tot gewesen wäre.“

„Der Gurt muss weg“

Hans-Gert Ahrends, Vorsitzender der DLRG-Ortsgruppe Wiesmoor-Großefehn, war damals selbst als Taucheinsatzleiter dabei und weiß, worauf es beim Sturz in den Kanal als Allererstes ankommt: „Der Gurt muss weg und man muss aus dem Auto raus“, sagt er. „Das Problem ist, dass das Auto sich beim Absturz meistens dreht, dann hängt man im Gurt und er blockiert, lässt sich also nicht mehr öffnen.“ Ahrends empfiehlt deshalb, immer einen Gurtschneider griffbereit zu haben.

Das zweite Hindernis ist der Wasserdruck. „Unter Wasser lassen sich die Türen nicht mehr öffnen“, erklärt Ahrends. „Wir kennen das Phänomen von der Ahrtal-Flut. Wenn dort das Wasser nur 20 bis 30 Zentimeter hoch vor den Türen stand, gingen sie nicht mehr auf. Der Wasserdruck ist einfach zu hoch. Für den Druckausgleich müsste man das Auto volllaufen lassen, aber so tiefenentspannt sind 99 Prozent der Verkehrsteilnehmer mit Sicherheit nicht. Vorher setzt die Panik ein.“

Oberste Regel: Ruhig bleiben und sofort raus

Der Weg nach draußen führt dann zwangsläufig über die Seitenfenster oder ein Schiebedach. Allerdings funktionieren die heute meist elektrisch. Und Elektrik und Wasser, da war doch was? „Auch bei Wassereintritt funktionieren elektrisch betriebene Fensterheber oder Schiebedächer in der Regel noch für einen kurzen Zeitraum“, sagt Nils Lingen vom ADAC Weser-Ems. Das gelte auch für Elektroautos. „Das Hochvoltsystem des Antriebs ist wasserdicht, und es besteht auch bei zeitweiliger Wassereinwirkung kein Stromschlagrisiko“, so Lingen. „Und die Bordelektronik ist wie bei Verbrennern mit einer 12-Volt-Batterie ausgestattet und verhält sich auch genauso.“

Versagen die Fensterheber doch, wird es Zeit für jenes Hilfsmittel, das man unbewusst schon immer in Bussen und Zügen gesehen hat: den Nothammer. „Hilfreich kann auch ein Federkörner sein, der mittels eines kleinen Bolzens mit Federtrieb ohne allzu große Kraftanstrengung die Scheibe zertrümmert“, erklärt Lingen. „In die kleinen Geräte ist oft auch gleich ein Gurtschneider integriert.“ Enno Vieth plädiert dafür, Nothammer für jedes Fahrzeug zur Pflichtausstattung zu machen wie das Warndreieck oder den Verbandskasten. „Am besten einen für jedes Seitenfenster“, sagt er. Vieth ist überzeugt, dass die alte Fensterkurbel in seinem Oldtimer ihm ebenfalls das Leben gerettet hat. „In Finnland ist man deshalb noch einen Schritt weiter gegangen“, sagt er. „Dort darf in den Autos zumindest an der Fahrerseite gar kein elektrischer Fensterheber mehr verbaut werden.“

Viele Gefahren werden unterschätzt

„Den klassischen Fehler, den Menschen in dieser Situation machen, gibt es so nicht“, sagt Hans-Gert Ahrends. Allerdings werde seiner Ansicht nach oft die Gefahrenlage unterschätzt. „Im Winter ist es natürlich besonders gefährlich, wenn die Straße glatt und das Wasser im Kanal eiskalt ist“, so Ahrends. „Aber auch regennasse Straßen sind gefährlich, erst recht wenn sie in Verbindung mit Pollen oder Laub schmierig oder rutschig werden.“ Ein weiteres oft unterschätztes Problem an Kanälen sind Wildwechsel. „Viele Leute wissen gar nicht, dass Kanäle auch Wildwechselstellen haben“, sagt Ahrends. „Rehe können einen Kanal dort durchschwimmen und dann urplötzlich aus der Böschung auftauchen.“

Etwa fünf- bis sechsmal im Jahr müssen die Einsatztaucher der DLRG zu einem Kanalunfall ausrücken. „In 90 Prozent der Fälle können sich die Verunglückten selbst befreien“, sagt Ahrends. „Die fünf bis sechs Fälle sind die übrigen zehn Prozent, in denen eine eingeklemmte Person unter Wasser gemeldet wird.“ Was das für die Überlebenschancen bedeutet, sagt er ziemlich klar: „Wir heißen inzwischen Einsatztaucher und nicht mehr Rettungstaucher, weil die Rettung eigentlich in diesen Fällen kaum noch eine realistische Option ist. Wir sind zwar mit einer Ausrückzeit unter zehn Minuten verdammt schnell, aber so lange unter Wasser die Luft anzuhalten ist salopp gesagt schwierig.“

Enno Vieth hatte Glück im Unglück, nicht zuletzt, weil er geistesgegenwärtig reagiert hat. „Ich habe ein ganz neues Jahr zu meinem Leben dazubekommen“, sagt er. Auf die Begleiterscheinungen hätte er aber gut verzichten können. „Tagsüber habe ich die Schublade, in der dieses Erlebnis liegt, gut im Griff. Aber nachts habe ich mich seitdem schon oft wach geschrien.“

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